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Steuerrecht
13.10.2016
Steuerrecht
FG Baden-Württemberg: Sitzangabe in Rechnungen und Vorsteuerabzug

FG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.4.2016 – 1 K 1158/14

Volltext: BB-Online BBL2016-2518-5

unter www.betriebs-berater.de

Leitsätze der Redaktion

Auch bei unrichtiger Angabe des Sitzes des leistenden Unternehmens in der Rechnung kann der Leistungsempfänger vorsteuerabzugsberechtigt sein. Die Angabe des handelsrechtlichen Gesellschaftssitzes kann ausreichen. „Anschrift“ und „Sitz der wirtschaftlichen Aktivität“ sind nicht gleichzusetzen. Der Sitz kann im Gegensatz zu „geschäftlichen Aktivitäten“ mit allgemein zugänglichen Quellen, dem Handelsregister, bestimmt werden.

Sachverhalt

Streitig ist, ob die Klägerin Vorsteuern aus Rechnungen eines sog. missing traders abziehen kann.

1. Die Klägerin ist eine GmbH. Sie ist Organträgerin in einer umsatzsteuerlichen Organschaft mit der ... GmbH (S-GmbH). Geschäftsführer der S-GmbH waren die Herren X., Y. und Z.. Die S-GmbH hat ihren Sitz in A, wo sie einen Schrotthandel betreibt.

2. Die S-GmbH bezog zwischen Februar und April des Streitjahres von der MJ GmbH (MJ-GmbH ) insgesamt rd. ... Tonnen Stahlschrott, verteilt auf neun Einzellieferungen. Der Schrott wurde von Lkw mit ungarischen Kennzeichen zur S-GmbH gebracht. Die MJ-GmbH war im Streitjahr eine von ... Schrottlieferanten der S-GmbH. Die Schrottlieferungen der MJ-GmbH umfassten im Streitjahr rd. 0,3 % der Einkaufswerte bzw. der Einkaufstonnage der S-GmbH.

Nach den Angaben des verantwortlichen Einkäufers bei der S-GmbH, Herrn B., kam der Geschäftskontakt mit der MJ-GmbH durch den Anruf von deren Geschäftsführer Q. (Q. ), einem ungarischen Staatsangehörigen, über eine A Festnetznummer zustande. Weitere Gespräche wurden über ein Mobiltelefon geführt. Schriftliche Kaufverträge gibt es nicht. Die Verantwortlichen der beiden Gesellschaften hatten keinen persönlichen Kontakt. Die S-GmbH fertigte für jede Schrottanlieferung u.a. auf die MJ-GmbH ausgestellte Wiegescheine.

Die S-GmbH bat den Steuerberater der MJ-GmbH mit Schreiben vom 29. Februar 2008 um Übersendung einer Bescheinigung, dass die MJ-GmbH ein umsatzsteuerpflichtiges Unternehmen sei. In der Anfrage gab die S-GmbH die ihr bekannte Anschrift der MJ-GmbH in A, C-Straße 5 an. Der Steuerberater der MJ-GmbH bestätigte der S-GmbH mit Antwortschreiben vom 3. März 2008, die MJ-GmbH versteuere ihre Umsätze nach den allgemeinen Vorschriften des Umsatzsteuergesetzes und sei zum Vorsteuerabzug berechtigt.

Die S-GmbH erteilte für die einzelnen Schrottlieferungen der GmbH Gutschriften. Darüber hinaus stellte die MJ-GmbH der S-GmbH für die Schrottlieferungen Rechnungen mit Ausweis der Umsatzsteuer aus. Die Rechnungen sind von Q. unterschrieben. Sie wurden der Klägerin per Fax von einer A Faxnummer mit dem Absender „M GmbH“ übermittelt. Als Anschrift der MJ-GmbH ist A, C-Straße 5 angegeben. Die MJ-GmbH nennt überdies die ihr vom Finanzamt A für Körperschaften erteilte Steuernummer.

Im Einzelnen handelt es sich um die folgenden Rechnungen und Gutschriften:

 

Datum Lieferung

Datum Rechnung

Datum Gutschrift

Entgelt netto

Vorsteuer

20.02.2008

22.02.2008

26.02.2008

...,... EUR

...,... EUR

22.02.2008

22.02.2008

26.02.2008

...,... EUR

...,... EUR

25.02.2008

04.03.2008

29.02.2008

...,... EUR

...,... EUR

26.02.2008

04.03.2008

29.02.2008

...,... EUR

...,... EUR

27.02.2008

04.03.2008

29.02.2008

...,... EUR

...,... EUR

27.02.2008

04.03.2008

29.02.2008

...,... EUR

...,... EUR

06.03.2008

17.03.2008

11.03.2008

...,... EUR

...,... EUR

11.03.2008

28.03.2008

19.03.2008

...,... EUR

...,... EUR

01.04.2008

09.04.2008

09.04.2008

...,... EUR

...,... EUR

        

        

        

...,... EUR

...,... EUR

Die S-GmbH überwies diese Beträge auf ein in den Rechnungen angegebenes Bankkonto der MJ-GmbH bei einem Kreditinstitut mit Sitz in A.

Die Klägerin zog in ihrer Umsatzsteuererklärung 2008 vom 14. September 2009 die Vorsteuern aus den Rechnungen der MJ-GmbH in Höhe von ...,... EUR ab.

3. Die Steuerfahndungsstelle beim Finanzamt A (Steuerfahndung) traf zur MJ-GmbH folgende weitere Feststellungen (steuerlicher Ermittlungsbericht zur S-GmbH vom 24. April 2012):

Die MJ-GmbH wurde im August 2001 mit Sitz in A gegründet. Gesellschaftszweck war zunächst die Entwicklung von Software. Sie besaß vom 24. November 2001 bis 1. Mai 2009 eine gültige Umsatzsteuer-Identifikationsnummer. Die Geschäftsanteile wurden im Februar 2007 an Q. verkauft, der zugleich neuer Geschäftsführer wurde. Zweck der Gesellschaft war nun zusätzlich der Handel mit Metallabfällen und Pkw. Die Geschäfte der MJ-GmbH seien faktisch von einem R.C. (C) geführt worden, weil Q. kein Deutsch gesprochen habe. C habe wohl mit dem Einkäufer der S-GmbH telefoniert. Der Sitz der Gesellschaft war laut der Eintragung im Handelsregister in A, C-Straße 5 (Eintragung vom .. Oktober 2010). Dort befanden sich auch die Räumlichkeiten der Anwaltskanzlei T. und U. (rd. 60 qm). Die von der MJ-GmbH für die Korrespondenz mit der S-GmbH genutzte Festnetz- und Faxnummer gehörten zu der Kanzlei. Die MJ-GmbH bevollmächtigte Rechtsanwalt T. (T. ) am 10. September 2009 außerdem, ihre Interessen vor den deutschen Behörden zu vertreten. Die Kanzlei diente als Domiziladresse für rd. 15 bis 20 andere Firmen. Ein eigener Arbeitsplatz war nicht vorhanden. Bei der Durchsuchung am 22. Januar 2009 wurden dort keine Papiere über eine Geschäftsverbindung der MJ-GmbH mit der S-GmbH aufgefunden. Geschäftsunterlagen der MJ-GmbH wurden vielmehr bei weiteren Durchsuchungen in Ungarn beschlagnahmt. Die Gelder auf den deutschen Bankkonten wurden nach Ungarn oder in die Slowakei weiterüberwiesen und dort in bar abgehoben. Die MJ-GmbH hatte neben dem Geschäftsführer keine Angestellten. Sie besaß weder ein Lager noch eigene Lkw. Laut Auskunft des T. ermöglichte die Kanzlei der MJ-GmbH die Nutzung eines Schreibtisches mit Personalcomputer sowie Telefonanschluss und stellte einen Briefkasten für die Post zur Verfügung. Der Schreibtisch sei etwa ein Mal im Monat von Herrn Q. und C genutzt worden, die einen Laptop dabei gehabt hätten.

Die Steuerfahndung kam zu dem Ergebnis, die MJ-GmbH sei in ein Umsatzsteuerkarussell mit ungarischem Schrott eingebunden gewesen. Sie habe in der planmäßig hintereinander geschalteten Rechnungskette als erste inländische Firma fungiert (sog. missing trader). Die MJ-GmbH habe den Schrott nicht nur an die S-GmbH, sondern auch an weitere deutsche Schrotthändler geliefert. Drahtzieher sei ein Herr Ü. gewesen, der die Geschäfte von Ungarn und den Seychellen aus gesteuert habe. Er sei inzwischen in der Türkei festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert worden.

Q. verstarb im Dezember 2008. Die MJ-GmbH meldete die Umsätze aus den Schrottlieferungen an die S-GmbH nicht an und zahlte die Umsatzsteuer nicht. Sie wurde am 20. Juni 2011 im Handelsregister gelöscht.

4. Die Staatsanwaltschaft A stellte die Steuerstrafverfahren gegen die drei Geschäftsführer der S-GmbH am 22. März 2012 nach § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO) wieder ein. Die Einstellung wurde damit begründet, dass die Geschäftsführer X. und Y. mit den Einkäufen organisatorisch nicht befasst gewesen seien. Dem Geschäftsführer Z. habe nicht nachgewiesen werden können, dass er persönlichen Kontakt zu den für die MJ-GmbH auftretenden Personen gehabt habe. Weitere Steuerstrafverfahren gegen Angestellte der S-GmbH, insbesondere den verantwortlichen Einkäufer, gab es nicht.

5. Der Beklagte (das Finanzamt --FA--) kürzte die Vorsteuern im geänderten Umsatzsteuerbescheid 2008 vom 30. November 2012 um ...,... EUR.

Mit dem dagegen am 10. Dezember 2012 eingelegten Einspruch machte die Klägerin geltend, die S-GmbH habe alle Maßnahmen ergriffen, die vernünftigerweise von ihr verlangt werden könnten, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht in einen Betrug einbezogen sind.

Bereits im Steuerfestsetzungsverfahren berief sich die S-GmbH in Schreiben an die Steuerfahndung vom 27. September 2010 und vom 10. Oktober 2010 ausdrücklich darauf, dass ihr der Vorsteuerabzug jedenfalls aus Billigkeitsgründen zu gewähren sei.

Der Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 3. März 2014 als unbegründet zurückgewiesen. Das FA führte aus, der Vorsteuerabzug setze eine Rechnung voraus, in der u.a. der Sitz des leistenden Unternehmers richtig angegeben sei. Daran fehle es im Streitfall. Unter der Anschrift der Anwaltskanzlei in A habe sich lediglich ein Büroserviceunternehmen befunden. Tatsächlich habe sich der Sitz der MJ-GmbH in Ungarn befunden, wo die Geschäftsunterlagen beschlagnahmt worden seien.

Die Vorsteuern seien auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Gutglaubensschutzes abziehbar. Es hätten gewichtige Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten in der Geschäftsabwicklung bestanden, aufgrund derer sich die S-GmbH Klarheit über die Existenz und Zuverlässigkeit der MJ-GmbH hätte verschaffen müssen: Der Schrott sei von Lkw mit ungarischen Kennzeichen angeliefert worden. Die Anlieferer hätten keine CMR-Frachtbriefe oder andere Warenbegleitbriefe vorgelegt.

6. Dagegen erhob die Klägerin am 4. April 2014 Klage, mit der sie weiterhin den Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der MJ-GmbH begehrt.

Während des Klageverfahrens erging am 22. Mai 2014 aus hier nicht streitigen Gründen erneut ein geänderter Umsatzsteuerbescheid 2008.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid über die Umsatzsteuer für das Kalenderjahr 2008 vom 22. Mai 2014 zu ändern und dabei den Überschuss der abziehbaren Vorsteuerbeträge über die festgesetzte Umsatzsteuer mit ...,... EUR festzusetzen,

hilfsweise, den Beklagten zu verpflichten, den Überschuss der abziehbaren Vorsteuerbeträge über die festgesetzte Umsatzsteuer im Billigkeitswege mit ...,... EUR festzusetzen.

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das FA ist weiterhin der Ansicht, dass der Klägerin keine ordnungsgemäße Rechnung vorgelegen habe, weil sich der Sitz der MJ-GmbH nicht in A, C-Straße 5 befunden habe. Für die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs trage die Klägerin die Feststellungslast.

Es könne auch kein Vorsteuerabzug im Billigkeitswege gewährt werden. Die Prüfungspflicht des Erwerbers beschränke sich nicht auf die zutreffende Anschrift des leistenden Unternehmers in der Rechnung, sondern umfasse die Gesamtumstände der Lieferbeziehung. Die S-GmbH habe keine Maßnahmen ergriffen, um die Angaben des steuerlichen Beraters zu überprüfen. Das sei aber schon im Hinblick auf die Betrugsanfälligkeit der Schrottbranche geboten gewesen. Im Einzelnen würden folgende Anhaltspunkte ergeben, dass die S-GmbH zumindest hätte wissen müssen, dass sie in einen Mehrwertsteuerbetrug eingebunden war: Die Kontaktaufnahme erfolgte telefonisch. Schriftliche Kaufverträge lägen nicht vor. Es habe keinen persönlichen Kontakt mit den Verantwortlichen der MJ-GmbH gegeben. Die S-GmbH verfüge über keine CMR-Frachtbriefe. Die Lieferscheine seien nicht unterschrieben und enthielten keine Angaben zu den Speditionen. Der Lieferschein über die Lieferung vom 20. Februar des Streitjahres gebe ein anderes Lieferdatum und eine andere Schrottmenge an als die Rechnung. Die Rechnungen der MJ-GmbH würden Bezug nehmen auf allgemeine Liefer- und Zahlungsbedingungen, die der S-GmbH nicht vorgelegen hätten. Über die Schrottlieferungen sei zunächst durch Gutschrift und anschließend nochmals durch Rechnung der MJ-GmbH abgerechnet worden. Dieses ungewöhnliche Verfahren berge die Gefahr eines doppelten Vorsteuerabzugs und lege den Schluss nahe, dass der MJ-GmbH die Details der Lieferungen nicht bekannt waren und erst den Gutschriften der S-GmbH entnehmen mussten.

7. In dem Rechtsstreit hat am 25. Februar 2016 ein Erörterungstermin stattgefunden.

Aus den Gründen

Die Klage ist mit dem Hauptantrag begründet. Der Umsatzsteuerbescheid 2008 vom 22. Mai 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Der Klägerin steht der Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der MJ-GmbH im Steuerfestsetzungsverfahren zu.

1. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) kann der Unternehmer als Vorsteuerbeträge die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, abziehen. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt weiter voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt (Satz 2 der Vorschrift).

Unionsrechtliche Grundlage dieser Vorschrift ist Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem vom 28. November 2006 (MwStSystRL). Danach muss der Steuerpflichtige, um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, eine gemäß Titel XI Kap. 3 Abschn. 3 bis 6 (Art. 219a bis Art. 240 MwStSystRL) ausgestellte Rechnung besitzen. Eine derartige Rechnung muss gemäß Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL ebenfalls die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen enthalten.

a) Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfordert das Merkmal „vollständige Anschrift“ die Angabe der zutreffenden Anschrift des leistenden Unternehmers, unter der er seine wirtschaftlichen Aktivitäten entfaltet. Sowohl Sinn und Zweck der Regelung in § 15 Abs. 1, § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG als auch das Prinzip des Sofortabzugs der Vorsteuer würden es gebieten, dass der Finanzverwaltung anhand der Rechnung eine eindeutige und leichte Nachprüfbarkeit des Tatbestandsmerkmals der Leistung eines anderen Unternehmers ermöglicht wird. Deshalb sei der Abzug der in der Rechnung einer GmbH ausgewiesenen Umsatzsteuer nur möglich, wenn der in der Rechnung angegebene Sitz der GmbH bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungstellung tatsächlich bestanden hat. Der den Vorsteuerabzug begehrende Leistungsempfänger trage hierfür die Feststellungslast, denn es bestehe eine Obliegenheit des Leistungsempfängers, sich über die Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu vergewissern. Die Angabe einer Anschrift, an der im Zeitpunkt der Rechnungstellung keinerlei geschäftliche Aktivitäten stattfinden (sog. „Briefkastensitz“), reiche als zutreffende Anschrift nicht aus (BFH-Urteil vom 22. Juli 2015 V R 23/14, BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914, Rz 25, unter Aufgabe früherer Rechtsprechung).

Der BFH beruft sich hierzu auch auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 28. Juni 2007 C-73/06, Planzer Luxembourg (Umsatzsteuerrundschau --UR-- 2007, 654), das zum „Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit“ i.S. von Art. 1 Nr. 1 der Dreizehnten Richtlinie 86/560/EWG des Rates vom 17. November 1986 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Verfahren der Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Gebiet der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige (Richtlinie 86/560/EWG) ergangen ist. Der EuGH habe in diesem Urteil entschieden, dass sich eine fiktive Ansiedlung in der Form, wie sie für eine „Briefkastenfirma“ oder für eine „Strohfirma“ charakteristisch ist, nicht als derartiger Sitz ansehen lasse. Das möge sich nicht unmittelbar auf den Begriff der „vollständigen Anschrift“ i.S. des Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL übertragen lassen. Der EuGH habe im selben Urteil aber auch entschieden, dass die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Realität ein grundlegendes Kriterium für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems sei. Ein bloßer „Briefkastensitz“ bilde aber die wirtschaftliche Realität gerade nicht ab, sondern verschleiere sie (BFH-Urteil vom 22. Juli 2015 V R 23/14, BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914, Rz 28).

b) Der EuGH hat bisher den Begriff der „vollständigen Anschrift“ nicht ausdrücklich konkretisiert. Der Begriff wird --abgesehen von „Postanschrift“ in Art. 361 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL im Rahmen der Sonderregelung für nicht in der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige, die elektronische Dienstleistungen an Nichtsteuerpflichtige erbringen-- in keiner anderen Vorschrift der MwStSystRL verwendet. Der EuGH ließ jedoch zuletzt den Vorsteuerabzug aus Rechnungen zu, in denen als Sitz des leistenden Unternehmers eine Anschrift angegeben war, an der ein Gebäude im „heruntergekommenen Zustand“ stand, das „keine wirtschaftliche Aktivität gestatte“, da dies nicht ausschließe, dass die Tätigkeiten an anderen Orten als dem Gesellschaftssitz ausgeübt würden (EuGH-Urteil vom 22. Oktober 2015 C-277/14, PPUH Stehcemp, UR 2015, 917, Rz 35). Der EuGH benennt in der Entscheidung keine Mindesterfordernisse für eine „vollständige Anschrift“, spricht aber (es ging um eine Kapitalgesellschaft polnischen Rechts) vom „im Handelsregister als Gesellschaftssitz bezeichneten Gebäude“ und „Anschrift des Gesellschaftssitzes“ (EuGH-Urteil vom 22. Oktober 2015 C-277/14, PPUH Stehcemp, UR 2015, 917, Rz 31, 42). Für ihn genügt offensichtlich die Angabe des handelsrechtlichen Gesellschaftssitzes. Jedenfalls setzt der EuGH --anders als der BFH-- nicht „Anschrift“ und „Sitz der wirtschaftlichen Aktivität“ gleich, sondern sieht im Auseinanderfallen von Anschrift und Sitz der wirtschaftlichen Aktivität keinen Widerspruch. Damit dürfte die o.g. Rechtsprechung des BFH zum nicht ausreichenden Briefkastensitz überholt sein (ebenso Grube, Mehrwertsteuerrecht 2015, 969; Klenk, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2015, 1185; von Streit/Luther, Der Umsatz-Steuer-Berater 2016, 51; kritisch auch Wäger in Birkenfeld/Wäger, Umsatzsteuer-Handbuch, aktuell 4/2015, Rz 172, der eine Vorlage an den EuGH befürwortet).

Die Rechtsprechung des EuGH ist gleichfalls großzügig bei der --ebenso von Art. 226 Abs. 5 MwStSystRL vorgesehenen-- Angabe des leistenden Unternehmers („Steuerpflichtigen“) in der Rechnung. So beanstandet er keine Rechnungen, obwohl die Ermittlungen der Finanzbehörden ergeben haben, dass der Rechnungsaussteller die abgerechneten Leistungen mangels eigenem Personal oder Betriebsmittel nicht erbracht haben kann (vgl. EuGH-Urteile vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11, Mahagében und Dávid, UR 2012, 591; vom 6. September 2012 C-324/11, Tóth, UR 2012, 851; vom 6. Dezember 2012 C-285/11, Bonik, UR 2013, 195; vom 13. Februar 2014 C-18/13, Maks Pen, UR 2014, 861). Nach hergebrachtem deutschen Verständnis würde es in diesen Fällen an der erforderlichen Identität von leistendem Unternehmer und Rechnungsaussteller fehlen (vgl. BFH-Entscheidungen vom 4. September 2003 V R 9/02 und 10/02, UR 2004, 27; vom 26. August 2004 V B 243/03, UR 2005, 216; vom 3. August 2007 V B 73/07, UR 2007, 944; vom 12. August 2009 XI R 48/07, BFH/NV 2010, 259).

Der EuGH ist bei den formalen Rechnungsanforderungen äußerst großzügig. Er sieht das Korrektiv eines ungerechtfertigten Vorsteuerabzugs in der --ungeschriebenen negativen-- Voraussetzung des Vorsteuerabzugs, dass der Rechnungsadressat (Leistungsempfänger) sich beim Geltendmachen des Vorsteuerabzugs nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf das Unionsrecht berufen könne (siehe nachfolgend unter 4.).

c) Der erkennende Senat schließt sich hinsichtlich der Anschrift des leistenden Unternehmers in der Rechnung der weiten Auslegung des EuGH an. Dafür spricht nicht nur der Wortlaut „Anschrift“ im Gegensatz zum „Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit“, sondern auch der Grundsatz der Rechtssicherheit.Danach müssen „die Vorschriften des Unionsrechts eindeutig sein“ und ihre Anwendung muss für die Betroffenen vorhersehbar sein, „wobei dieses Gebot der Rechtssicherheit in besonderem Maß gilt, wenn es sich um Vorschriften handelt, die finanzielle Konsequenzen haben können, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen durch diese Vorschriften auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen“. Zudem „müssen die Rechtsnormen der Mitgliedstaaten auf den vom Unionsrecht erfassten Gebieten eindeutig formuliert sein, so dass den betroffenen Personen die klare und genaue Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten ermöglicht wird, und die innerstaatlichen Gerichte in die Lage versetzt werden, deren Einhaltung sicherzustellen“ (EuGH-Urteile vom 9. Oktober 2014 C-492/13, Traum EOOD, UR 2014, 943, Rz 28 ff.; vom 9. Juli 2015 C-144/14, Tomoiagă, UR 2015, 601, Rz 34 f.; vom 9. Juli 2015 C-183/14, Salomie und Oltean, UR 2015, 594, Rz 31 f.; BFH-Entscheidungen vom 2. Dezember 2015 V R 15/14, UR 2016, 192; vom 27. Januar 2016 V B 87/15, UR 2016, 287).

Die Versagung des Vorsteuerabzugs ist finanziell belastend. Es würde dem Grundsatz der Rechtssicherheit widersprechen, wenn der Vorsteuerabzug von hinreichenden geschäftlichen Aktivitäten an einem bestimmten Ort abhinge, die im Wirtschaftsleben vom Leistungsempfänger nicht in zumutbarer Weise überprüft werden können. Daher genügt es, wenn die Rechnung den Gesellschaftssitz angibt, der aus allgemein zugänglichen Quellen wie z.B. dem Handelsregister leicht bestimmbar ist und unter der der Leistungsempfänger den leistenden Unternehmen erreichen konnte und tatsächlich erreicht hat, z.B. im Rahmen der Geschäftsanbahnung oder Erteilen von Rechnungen (im Ergebnis ebenso Finanzgericht --FG-- Köln, Urteil vom 28. April 2015 10 K 3803/13, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2015, 1655, Revision BFH V R 25/15).

Diese Auslegung widerspricht nicht dem EuGH-Urteil vom 28. Juni 2006 C-73/06, Planzer Luxembourg (UR 2007, 654). Dieses Urteil betrifft den Unternehmer mit zweifelhaftem „Sitz der wirtschaftlichen Aktivität“ selbst. Er muss der Steuerbehörde, von der er die Vorsteuererstattung begehrt, den „Sitz der wirtschaftlichen Aktivität“ nachweisen. Im Streitfall geht es jedoch um den Vorsteuerabzug von Unternehmern aus Rechnungen von anderen Unternehmern (Vertragspartnern), deren „Anschrift“ zweifelhaft erscheint. Diese Unternehmer haben jedoch keinen Einblick in die wirtschaftlichen Aktivitäten ihrer Vertragspartner. Folglich können nicht die gleichen Maßstäbe für die „Anschrift“ und den „Sitz der wirtschaftlichen Aktivität“ angelegt werden.

2. Im Streitfall sind die Rechnungen der MJ-GmbH ordnungsgemäß. Die Rechnungen geben die zutreffende Anschrift des leistenden Unternehmers (MJ-GmbH) in A, C-Straße 5 an.

Es bestand --selbst nach den Anforderungen des BFH-- kein sog. „Briefkastensitz“, an dem keinerlei geschäftliche Aktivitäten stattfanden. Vielmehr stand den Handelnden der MJ-GmbH dort ein Schreibtisch sowie Telefon und Fax zur Verfügung, die auch tatsächlich genutzt wurden. So ging die Geschäftsanbahnung mit der S-GmbH über eine Festnetznummer von dieser Anschrift aus. Die per Fax übermittelten Rechnungen der MJ-GmbH kamen ebenfalls von dieser Anschrift. Die Handelnden der MJ-GmbH haben jedenfalls nach den Angaben des T. etwa einmal im Monat die Räumlichkeiten aufgesucht. Bei Handelsbetrieben entspricht es im Übrigen der heutigen wirtschaftlichen Realität, dass Wareneinkauf und Verkauf per Telefon und Laptop von einem beliebigen Punkt in der Welt organisiert werden können, für die ein Sitz der wirtschaftlichen Aktivitäten kaum rechtssicher bestimmbar wäre.

Die Rechnungsangabe entspricht ohnehin den gesetzlichen Anforderungen, wenn die Angabe des Gesellschaftssitzes genügt. Die Rechnungen der S-GmbH und die Gutschriften der MJ-GmbH geben als Anschrift A, C-Straße 5 an. Dies entspricht der Eintragung des Sitzes im Handelsregister, wo nach der Gründung der MJ-GmbH „A“ als Sitz vermerkt war. Das Registergericht hat die Straße „C-Straße 5“ von Amts wegen erst am ... Oktober 2010 eingetragen. Es hat dabei aber lediglich auf die ihm bereits bekannte Anschrift zurückgegriffen (vgl. § 3 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung). Der Senat hat keine vernünftigen Zweifel daran, dass sich zumindest seit dem Erwerb der MJ-GmbH durch Q. deren Gesellschaftssitz unverändert in A, C-Straße 5 befunden hat.

Das ist auch die Adresse, unter der das Finanzamt A für Körperschaften die MJ-GmbH mitsamt einer gültigen Steuernummer geführt hat (siehe Schreiben an den Steuerberater der MJ-GmbH vom 18. September 2007).

3. Die übrigen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug liegen ebenfalls vor.

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die in Rechnung gestellten Schrottlieferungen tatsächlich erbracht wurden und der MJ-GmbH als leistende Unternehmerin zuzurechnen sind. Die Beteiligten der MJ-GmbH sind im Namen der Gesellschaft aufgetreten, so dass vom maßgebenden Empfängerhorizont aus gesehen (vgl. §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) die Verträge über die Schrottlieferungen zwischen der S-GmbH und der MJ-GmbH zustande gekommen sind. Nach diesen schuldrechtlichen Verträgen bestimmt sich im Umsatzsteuerrecht, wer als Leistender und Leistungsempfänger anzusehen ist (vgl. BFH-Urteil vom 12. August 2015 XI R 43/13, BFHE 251, 253, BStBl II 2015, 919).

Der Klägerin steht der Vorsteuerabzug aus den Rechnungen an die S-GmbH zu, da deren Eingangsleistungen innerhalb der Organschaft dem Organträger zugerechnet werden (BFH-Urteil vom 29. Januar 2014 XI R 4/12, BFHE 244, 131, UR 2014, 392).

Ob die Umsatzsteuer, die für die vorausgegangenen oder nachfolgenden Verkäufe der betreffenden Gegenstände geschuldet war, tatsächlich an den Fiskus entrichtet wurde, ist für das Recht des Unternehmers auf Vorsteuerabzug nicht von Bedeutung (EuGH-Entscheidungen vom 3. März 2004 C-395/02, Transport Service, UR 2005, 107, Rz 26; vom 6. Juli 2006 C-439/04 und C-440/04, Kittel und Recolta Recycling, UR 2006, 594, Rz 49; vom 6. Dezember 2012 C-285/11, Bonik, UR 2013, 195, Rz 28).

4. Der Vorsteuerabzug kann der Klägerin auch nicht wegen Beteiligung an einer Steuerhinterziehung versagt werden.

a) Das Recht auf Vorsteuerabzug kann dem Unternehmer verweigert werden, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Unternehmer, dem die Gegenstände geliefert bzw. dem gegenüber die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass dieser Umsatz in eine vom Liefernden bzw. vom Leistenden oder einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangene Steuerhinterziehung einbezogen war. Ein Unternehmer, der wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist, ist nämlich für die Zwecke der MwStSystRL als an dieser Hinterziehung Beteiligter anzusehen, und zwar unabhängig davon, ob er im Rahmen seiner besteuerten Ausgangsumsätze aus dem Weiterverkauf der Gegenstände oder der Verwendung der Dienstleistungen einen Gewinn erzielt (EuGH-Urteile vom 6. Juli 2006 C-439/04 und C-440/04, Kittel und Recolta Recycling, UR 2006, 594; vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11, Mahagében und Dávid, UR 2012, 591, Rz 40; BFH-Urteil vom 19. April 2007 V R 48/04, BFHE 217, 194, BStBl II 2009, 315).

Die Darlegungs- und Feststellungslast für die Bösgläubigkeit des Leistungsempfängers trägt die Finanzbehörde (EuGH-Urteile vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11, Mahagében und Dávid, UR 2012, 591, Rz 49; vom 6. September 2012 C-324/11, Tóth, UR 2012, 851, Rz 51; vom 6. Dezember 2012 C-285/11, Bonik, UR 2013, 195, Rz 43; vom 13. Februar 2014 C-18/13, Maks Pen, UR 2014, 861, Rz 29; vom 22. Oktober 2015 C-277/14, PPUH Stehcemp, UR 2015, 917, Rz 50).

Dagegen können Wirtschaftsteilnehmer, die alle Maßnahmen treffen, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden können, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht in einen Betrug --sei es eine Mehrwertsteuerhinterziehung oder ein sonstiger Betrug-- einbezogen sind, auf die Rechtmäßigkeit dieser Umsätze vertrauen, ohne Gefahr zu laufen, ihr Recht auf Vorsteuerabzug zu verlieren (EuGH-Urteile vom 6. Juli 2006 C-439/04 und C-440/04, Kittel und Recolta Recycling, UR 2006, 594, Rz 51; vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11, Mahagében und Dávid, UR 2012, 591, Rz 53).

Welche Maßnahmen im konkreten Fall vernünftigerweise von einem Unternehmer, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, verlangt werden können, um sicherzustellen, dass seine Umsätze nicht in einen von einem Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangenen Betrug einbezogen sind, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen ab (EuGH-Urteil vom 22. Oktober 2015 C-277/14, PPUH Stehcemp, UR 2015, 917, Rz 51). Liegen Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung vor, kann ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer zwar nach den Umständen des konkreten Falls verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Gegenstände oder Dienstleistungen zu erwerben beabsichtigt, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen (EuGH-Urteile vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11, Mahagében und Dávid, UR 2012, 591, Rz 60). Die Finanzbehörden können jedoch von dem Unternehmer, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, nicht generell verlangen, zum einen zu prüfen, ob der Aussteller der Rechnung über die Gegenstände und Dienstleistungen, für die dieses Recht geltend gemacht wird, Unternehmer ist, über die fraglichen Gegenstände verfügte und sie liefern konnte und seinen Verpflichtungen hinsichtlich der Erklärung und Abführung der Umsatzsteuer nachgekommen ist, um sich zu vergewissern, dass auf der Ebene der Wirtschaftsteilnehmer einer vorhergehenden Umsatzstufe keine Unregelmäßigkeiten und Steuerhinterziehung vorliegen, oder zum anderen entsprechende Unterlagen vorzulegen (EuGH-Urteile vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11, Mahagében und Dávid, UR 2012, 591, Rz 61).

b) Im Streitfall hat das FA weder Anhaltspunkte tatsächlicher Art nachgewiesen, nach denen Verantwortliche der S-GmbH wussten oder hätten wissen müssen, dass sie sich mit dem Erwerb des Schrotts an einem Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligten, noch sonstige Anhaltspunkte, nach denen die Verantwortlichen der S-GmbH --aus der Sicht eines Unternehmers, der mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns handelt-- sich durch weitere Maßnahmen von der Zuverlässigkeit der MJ-GmbH hätten überzeugen müssen.

Dabei sind aus der Sicht des erkennenden Senats insbesondere die folgenden Umstände zu berücksichtigen:

Die Strafverfahren gegen die drei Geschäftsführer der GmbH wurden nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, weil ihnen keine Beteiligung an den Straftaten der Verantwortlichen der MJ-GmbH nachgewiesen werden konnte. Strafrechtlichen Ermittlungen gegen andere Handelnde der S-GmbH gab es nicht.

Nach den Erkundigungen des FA sind sowohl die erstmalige Kontaktaufnahme per Telefon als auch der Abschluss mündlicher Verträge über die Schrottlieferungen branchenüblich (siehe Aktenvermerk des FA vom 3. Juni 2013). Der ohnehin ständig schwankende Ankaufspreis hängt maßgebend von der Qualität des Schrotts ab, die erst bei der Anlieferung festgestellt werden kann. Ein verbindlicher Kaufvertrag kommt damit erst nach der Prüfung des Schrotts zustande. Das Fehlen vorab gefertigter schriftlicher Kaufverträge kann den Verantwortlichen daher nicht vorgeworfen werden. Diese Anforderung wäre wegen der Formfreiheit von Kaufverträgen auch überzogen.

Die S-GmbH hat zeitnah zur Geschäftsanbahnung beim Steuerberater der MJ-GmbH um eine Bescheinigung über deren Unternehmereigenschaft gebeten und eine entsprechende Bestätigung erhalten. Dabei gab sie auch die ihr bekannte Anschrift der MJ-GmbH in A, C-Straße 5 an. Auf die Auskunft des Angehörigen eines staatlich regulierten Berufsstandes durfte die S-GmbH vertrauen. Das FA hat keine Gesichtspunkte vorgetragen, wonach Verantwortliche der S-GmbH wussten oder davon ausgehen mussten, dass die Bestätigung nur zum Schein erteilt worden ist. Ein Kontrollanruf bei der MJ-GmbH war nach der positiven Auskunft des Steuerberaters entbehrlich. Die Klägerin weist in diesem Zusammenhang schließlich zu Recht darauf hin, dass sie von den Finanzbehörden nähere Auskünfte über die leistenden Unternehmer mit Hinweis auf das Steuergeheimnis nicht erhalte. Abgesehen von der Zumutbarkeit solcher Maßnahmen stehen den Unternehmern --anders als den Finanzbehörden etwa mit der Umsatzsteuernachschau-- keine einfachen Eingriffsrechte zur Erforschung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Vertragspartner zur Verfügung.

Die S-GmbH hat das Entgelt durch Banküberweisung innerhalb Deutschlands bezahlt und gerade keine --für besonders betrugsanfällig gehaltenen-- Bargeschäfte getätigt (vgl. für die innergemeinschaftliche Lieferung: BFH-Urteil vom 25. April 2013 V R 28/11, BFHE 242, 77, BStBl II 2013, 656).

Auch die Eintragungen der MJ-GmbH im Handelsregister gaben keinen Anlass für weitere Nachforschungen. Aus diesen ergab sich für das Streitjahr der Sitz der MJ-GmbH in A. Der dort angegebene Gesellschaftszweck umfasste auch den Handel mit Metallabfällen. Die Geschäfte wurden über eine Festnetznummer in A angebahnt und über eine Faxnummer in A abgewickelt. In den Faxen erscheint als Absender „M GmbH“. Die Faxe sind von dem im Handelsregister als Geschäftsführer eingetragenen Q. unterschrieben. Es fehlen allerdings jegliche Anhaltspunkte dafür, dass die Unterschrift gefälscht gewesen sein könnte und die Verantwortlichen der S-GmbH dies ggf. wussten oder hätten wissen müssen.

Die Lieferung des Schrotts auf Lkw mit ungarischen Kennzeichen und ungarischen Fahrern machte ebenfalls nicht bösgläubig. Ungarn ist seit dem Jahr 2004 Mitglied der Europäischen Union. Die Grenzen sind für den freien Personen- und Warenverkehr offen.

Auch die fehlenden CMR-Frachtbriefe lassen nicht darauf schließen, dass die Verantwortlichen der S-GmbH in einen Betrug eingebunden waren. Die S-GmbH hat den Schrott von der inländischen MJ-GmbH und damit im Rahmen einer steuerpflichtigen inländischen Lieferung erworben. CMR-Frachtbriefe sind unter bestimmten Voraussetzungen für den Vorlieferanten der MJ-GmbH zum Nachweis einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung erforderlich (vgl. § 17a Abs. 3 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung --UStDV--), nicht jedoch für die Ausübung des Rechts auf den Vorsteuerabzugs. Ebenso wenig bestand daher eine Obliegenheit zur Anforderung von CMR-Frachtbriefen. Anders als bei der innergemeinschaftlichen Lieferung (vgl. § 17a Abs. 2 UStDV) muss für Zwecke des Vorsteuerabzugs die Identität des Fahrers des Lkw nicht erfasst werden. Der Vorsteuerabzug setzt schließlich nicht voraus, dass unterschriebene Lieferscheine vorliegen; die S-GmbH hat --vom FA nicht angezweifelt-- den Nachweis über die bezogenen Lieferungen bereits durch die Wiegescheine erbracht.

Das Nebeneinander von Rechnungen der MJ-GmbH und Gutschriften der S-GmbH musste ebenfalls keinen Argwohn wecken. Die eigene Abrechnung durch die Gutschriften belegt vielmehr, dass die S-GmbH die Schrottlieferungen ordnungsgemäß steuerlich erfassen wollte. Die Rechnungen und Gutschriften stimmen inhaltlich überein. Insbesondere entsprechen die darin genannten Liefertermine und Schrottmengen den Angaben der Wiegescheine. Das gilt auch, wenn die --ohnehin neben den Wiegescheinen entbehrlichen-- Lieferscheine geringfügig abweichende Angaben enthalten sollten. Der Hinweis auf die Gefahr eines doppelten Vorsteuerabzugs greift im Streitfall nicht, da die Klägerin nur einmal Vorsteuern abgezogen hat. Auch darin zeigt sich die Redlichkeit der Handelnden der S-GmbH.

Schließlich führt auch eine Gesamtschau sämtlicher Umstände des Streitfalls nicht zu einem anderen Ergebnis. Die Schrottlieferungen wurden problemlos und branchenüblich abgewickelt. Der pauschale Verweis auf die Betrugsanfälligkeit der Schrottbranche und der deswegen zum 1. Januar 2011 eingeführten Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger gemäß § 13b Abs. 2 Nr. 7 UStG geht nicht auf die --hier allein maßgebenden-- Umstände des Streitfalls ein. Die Anlieferungen der MJ-GmbH machten nur rd. 0,3 % der Einkaufswerte bzw. der Einkaufstonnage bei der S-GmbH aus. Die MJ-GmbH war im Streitjahr eine von ... Lieferanten der S-GmbH. Nach den Erkundigungen des FA sind die S-GmbH und deren Geschäftsführer ungeachtet der Tätigkeit in der Schrottbranche und regelmäßiger Betriebsprüfungen steuerlich unbescholten (siehe Aktenvermerk des FA vom 12. Juni 2013).

5. Über den Hilfsantrag, mit dem die Klägerin den Vorsteuerabzug im Billigkeitswege begehrt, kommt es nicht an, da die Klage bereits im Hauptantrag Erfolg hat.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 FGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und §§ 709, 711 der Zivilprozessordnung.

7. Die Klägerin beantragte, die Zuziehung des Bevollmächtigten zum Vorverfahren für notwendig zu erklären. Dem Verfahren lag ein Sachverhalt zugrunde, der in rechtlicher Hinsicht nicht von vornherein als einfach zu beurteilen war. Die Klägerin durfte sich daher eines Rechtskundigen bedienen, um eine erfolgversprechende Rechtsverfolgung zu erreichen. Der Senat hält hiernach die Zuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig (vgl. § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).

8. Die Revision ist nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, da die Frage, wann eine Rechnung die „vollständige Anschrift“ des leistenden Unternehmers angibt, noch nicht abschließend geklärt ist (vgl. die Revisionen gegen die Urteile des FG Köln vom 12. März 2014 4 K 2374/10, EFG 2014, 1442, Az. des BFH: XI R 22/14; FG Düsseldorf vom 14. März 2014 1 K 4566/10 U, EFG 2014, 1526, Az. des BFH: XI R 20/14; FG Köln vom 28. April 2015 10 K 3803/13, EFG 2015, 1655, Az. des BFH: V R 25/15).

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