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Steuerrecht
10.10.2012
Steuerrecht
FG Münster: Inhalt der Grundbesitzakte keine neue Tatsache

FG Münster, Urteil vom 26.7.2012 - 3 K 207/10 E

Sachverhalt

Streitig ist, ob die Voraussetzungen für eine Änderung der Einkommensteuer-festsetzungen 2003, 2005 und 2006 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) vorliegen.

Der Kläger erzielte in den Streitjahren unter anderem Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung verschiedener Immobilien. Es handelt sich dabei unter anderem um das Mietwohngrundstück A-Straße 1 in E sowie um Wohnflächen auf dem Grundstück B-Straße 2 in L. Das Grundstück A-Straße 1 hat der Kläger im Jahre 2001 von seiner damaligen Ehefrau C 2, von der er seit Februar 2002 dauernd getrennt lebte und von der er seit 2005 geschieden ist, zu einem Kaufpreis in Höhe von X DM erworben. Das ursprünglich mit einem Wohnhaus und Stallungen bzw. einer Scheune bebaute Grundstück B-Straße 2 hat der Kläger im Jahre 1994 nebst weiteren unbebauten Grundstücksflächen erworben. Im notariellen Kaufvertrag vom 22.07.1994 sind als Kaufpreise für das bebaute Grundstück B-Straße 2 X DM und für die unbebauten Grundstücksflächen X DM aufgeführt. Das Wohnhaus des Grundstücks B-Straße 2 nutzte der Kläger auch in den Streitjahren zu eigenen Wohnzwecken. Die sich in den anderen Gebäudeteilen befindenden Wohnflächen waren auch in den Streitjahren fremdvermietet. Das Mietwohngrundstück A-Straße 1 war in den Streitjahren vollumfänglich fremdvermietet. Die Anschaffungskosten der Objekte B-Straße 2 und A-Straße 1 finanzierte der Kläger teilweise durch Darlehen der U Lebensversicherung AG sowie der Bank 1 E.

Bezüglich des Grundstücks B-Straße 2 reichte der Kläger für den Veranlagungszeitraum 1995 eine Aufteilung der Anschaffungskosten sowie eine Aufteilung der Schuldzinsen beim Beklagten ein. Darin errechnete der Kläger unter anderem, dass 36,31 % der finanzierten Anschaffungskosten gemäß des Kaufvertrages vom 22.07.1994 (Objekt B-Straße 2) auf den vermieteten Teil entfallen und dass 26,4 % der Schuldzinsen des Us auf das Vermietungsobjekt „A-Straße" entfallen.

Der Beklagte nahm diese Berechnungen ebenso wie die Kaufverträge zu seiner „Grundbesitzakte" und legte für die streitbefangenen Vermietungsobjekte Überwachungsbögen für Gebäudeabschreibungen an. Darin wurden für das Objekt A-Straße 1 Anschaffungskosten in Höhe von X DM erfasst. In dem Überwachungsbogen für das Objekt B-Straße 2 sind als Nutzungen „fremde Wohnzwecke" und „eigene Wohnzwecke" sowie Anschaffungskosten in Höhe von X DM als Bemessungsgrundlage für die Abschreibung erfasst. Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Grundbesitzakte verwiesen.

In den von den Prozessbevollmächtigten des Klägers erstellten Einkommensteuer-erklärungen für die Streitjahre wurden bezüglich des Vermietungsobjekts B-Straße 2 Zinsen aus einem Darlehen über X Euro bei der Bank 1 E eG in voller Höhe als Werbungskosten geltend gemacht. Es handelt sich dabei um Beträge in Höhe von X Euro (Veranlagungszeitraum - VZ - 2003), X Euro (VZ 2005) und X Euro (VZ 2006). Darüber hinaus wurden für das vorgenannte Vermietungsobjekt anteilige Zinsen (36,31 %) aus einem Darlehen der U Lebensversicherung AG über X Euro als Werbungskosten geltend gemacht. Hierbei handelt es sich um Beträge in Höhe von X Euro (VZ 2003), X Euro (VZ 2005) und X Euro (VZ 2006). Für das Vermietungsobjekt A-Straße 1 wurden ferner anteilige Zinsen (29,6 %) des vorgenannten Darlehens der U Lebensversicherung AG in Höhe von X Euro (VZ 2003), in Höhe von X Euro (VZ 2005) und in Höhe von X Euro (VZ 2006) als Werbungskosten geltend gemacht. Zu den Einzelheiten wird auf die Einkommen-steuererklärungen der Streitjahre nebst der eingereichten Anlagen und Unterlagen verwiesen.

Auf der Grundlage der Einkommensteuererklärungen wurde der Kläger, im Veranlagungszeitraume 2003 zusammen mit seiner damaligen Ehefrau, zunächst im Wesentlichen, insbesondere bezüglich der hier streitigen Vermietungseinkünfte, erklärungsgemäß zur Einkommensteuer veranlagt. Zu den Einzelheiten wird auf die Einkommensteuererklärungen sowie auf den weiteren Inhalt der Einkommensteuerakte verwiesen. Die Steuerfestsetzungen wurden bestandskräftig.

Im Rahmen der Veranlagung zur Einkommensteuer 2007 überprüfte der Beklagte den Ansatz der Schuldzinsen für das Objekt B-Straße 2 und forderte die Prozessbevollmächtigen des Klägers zur Stellungnahme auf. Daraufhin teilten die Prozessbevollmächtigten des Klägers dem Beklagten mit Schreiben vom 28.10.2008 unter Vorlage berichtigter Anlagen für die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung mit, dass die Zinsen aus dem Darlehen der U Lebensversicherung AG in Höhe von 26,4 % als Werbungkosten bezüglich des Objekts A-Straße 1 zu berücksichtigen seien und der Restbetrag auf das Gesamtobjekt B-Straße 2 entfalle. Darüber hinaus seien hinsichtlich des Objekts B-Straße 2 die anteiligen Zinsen aus dem vorgenannten Darlehen sowie die Zinsen aus dem Darlehen bei der Bank 1 E lediglich zu 36,31 % als Werbungskosten zu berücksichtigen. Diese Aufteilung ist zwischen den Beteiligten materiell rechtlich unstreitig.

Hiervon ausgehend ermittelte der Beklagte die als Werbungskosten zu berücksichtigenden anteiligen Zinsaufwendungen aus den Darlehen der U Lebensversicherung AG und der Bank 1 E  bezüglich der Vermietungsobjekte B-Straße 2 und A-Straße 1 u.a. für die Jahre 2003 bis 2006 neu und teilte dies den Prozessbevollmächtigten der Kläger mit Schreiben vom 30.10.2008 mit. Aufgrund der Berechnungen des Beklagten ergeben sich Erhöhungen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung von X Euro (VZ 2003), X Euro (VZ 2005) und X Euro (VZ 2006). Zu den Einzelheiten wird auf die Berechnung des Beklagten in der Anlage zum Schreiben vom 30.10.2008 Bezug genommen (vgl. Blatt 113-115 des Einspruchshefters). Die Berechnung und die dort vorgenommenen Korrekturen der Werbungskosten bezüglich der Zinsaufwendungen aus den Darlehen der U Lebensversicherung AG und der Bank 1 E sowie die sich daraus ergebenden geänderten Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sind materiell rechtlich zwischen den Beteiligten unstreitig.

Unter Berücksichtigung der neu berechneten Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erließ der Beklagte am 12.03.2009 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geänderte Einkommensteuerbescheide und setzte die Einkommensteuer 2003 auf X Euro, die Einkommensteuer 2005 auf X Euro und die Einkommensteuer 2006 auf X Euro fest. Auf die vorgenannten Bescheide wird Bezug genommen (vgl. Blatt 117 ff. u. 125 ff. des Einspruchshefters).

Gegen diese Änderungsbescheide legte der Kläger fristgerecht Einspruch ein mit der Begründung, die Änderungsvorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sei nicht einschlägig. Bis einschließlich 2001 seien die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zutreffend erklärt worden und insbesondere die Darlehenszinsen richtig aufgeteilt worden, wobei die Steuererklärungen durch den Vorberater erstellt worden seien. Bei der Erstellung der Einkommensteuererklärungen der Folgejahre durch die jetzigen Prozess-bevollmächtigen hätten die ursprünglichen Aufteilungsberechnungen nicht vorgelegen, sondern lediglich die Angaben der Gesamtzinsaufwendungen und dessen Zurechnung zur Besitzung B-Straße 2. Dem Beklagten hätten alle für die Beurteilung des Sachverhalts notwendigen Unterlagen und Auskünfte für die Veranlagungen der Jahre 2003 bis 2006 vorgelegen, den Prozessbevollmächtigen jedoch nicht. Insbesondere seien den Beklagten die entsprechenden Zinsbescheinigungen sowie der Aufteilungsmodus der vorherigen Veranlagungen bekannt gewesen. Aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes hätte dem Beklagten auffallen müssen, dass die Schuldzinsen in den Einkommensteuererklärungen ab dem Veranlagungszeitraum 2002 nicht zutreffend aufgeteilt worden seien. Die erneute Überprüfung des Sachverhalts durch den Beklagten habe zu einer anderen rechtlichen Beurteilung geführt, nicht jedoch zum Bekanntwerden neuer Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.

Mit Einspruchsentscheidung vom 16.12.2009 wies der Beklagte die Einsprüche als unbegründet zurück und hielt an der Anwendbarkeit der Änderungsvorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO fest.  Zur Begründung führte der Beklagte im Wesentlichen aus, er habe von der Richtigkeit der Einkommensteuererklärungen 2003 bis 2006 in Bezug auf die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung ausgehen können, eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht liege nicht vor. Denn in den Einkommensteuererklärungen seien bezüglich des Objekts B-Straße 2 aufgrund der anteiligen Selbstnutzung anteilige Kürzungen in Höhe von 36,31 % der Schuldzinsen vorgenommen worden. Dementsprechend hätten sich keine Zweifel an der Richtigkeit der Erklärung aufgedrängt, zumal die Anlagen V nicht vollständig ausgefüllt worden seien, so dass sich kein Hinweis auf eine anteilige Selbstnutzung ergeben habe. Erst im Einspruchsverfahren seien die bereits archivierten Akten für die Jahre 1996 bis 2000 angefordert worden. Aus diesen Akten habe sich ergeben, dass bis 2000 eine andere Aufteilung der Schuldzinsen durch den vorherigen Steuerberater vorgenommen worden sei. Der Kläger könne sich nach Treu und Glauben nicht darauf berufen, dass die in 1996 bis 2000 in den Anlagen V hinsichtlich der Selbstnutzung erfolgte Aufteilung der Schuldzinsen dem Beklagten durch Heranziehung archivierter Akten als bekannt zu gelten habe, da er seinerseits die ihn treffende Mitwirkungs- und Erklärungspflicht nicht im zumutbarem Umfang erfüllt habe. Von dem steuerlichen Berater des Klägers sei zu erwarten gewesen, dass er die denkbare Relevanz der teilweisen Selbstnutzung und die sich daraus ergebende steuerliche Relevanz dieser Tatsache hätte erkennen müssen. Im Übrigen wird auf die Einspruchsentscheidung des Beklagten verwiesen (vgl. Blatt 161 ff. des Einspruchshefters).

Mit seiner Klage vom 18.01.2010 verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Der Kläger vertritt weiterhin die Auffassung, die Änderungsvorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sei nicht einschlägig. Da dem Beklagten alle für die Beurteilung des Sachverhalts erforderlichen Unterlagen und Belege zum Zeitpunkt der Veranlagungen vorgelegen hätten, seien ihm nachträglich keine neuen Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bekannt geworden. Darüber hinaus habe der Beklagte seine Amtsermittlungspflicht verletzt. Er habe erkennen können, dass sich die als Werbungskosten geltend gemachten Schuldzinsen für das Objekt B-Straße 2 von X DM im Jahr 2001 ohne erkennbaren Grund im Jahre 2002 auf X DM erhöht haben. Denn den Beklagten hätten die Erklärungen sowie die Unterlagen der Vorjahre vorgelegen. Dies gelte jedoch nicht für die Prozessbevollmächtigten des Klägers. Der Kläger habe die Prozessbevollmächtigen im Jahr 2002 erstmals mit der Erstellung der Einkommen-steuererklärung 2001 beauftragt. Da der Kläger nicht über Abschriften der bisher eingereichten Einkommensteuererklärungen bis 2000 verfügt habe, habe sich seine Prozessvertretung beim Beklagten über die Höhe der Bemessungsgrundlagen für die Abschreibung des Objekts B-Straße 2 sowie über den Aufteilungsprozentsatz der als Werbungskosten anzusetzenden Schuldzinsen erkundigt. Ein Sachbearbeiter des Beklagten habe den Prozessbevollmächtigten des Klägers daraufhin fernmündlich den Aufteilungsprozentsatz für den Ansatz der Schuldzinsen des Darlehens bei der U Lebensversicherung AG mitgeteilt. Dabei habe der Prozessvertreter des Klägers verstanden, dass die Zinsen aus dem vorgenannten Darlehen zu 29,6 % bei dem Objekt A-Straße und zu 36,31 % bei dem Objekt B-Straße zu berücksichtigten seien. Ferner sei er davon ausgegangen, dass die Schuldzinsen aus dem Darlehen bei der Bank 1 E  zu 100 % zu berücksichtigen seien. Hierzu verweist der Kläger ergänzend auf ein Schreiben des Vorberaters an den Beklagten vom 06.03.2002 bezüglich der Einkommensteuer 2000, auf das Bezug genommen wird (vgl. Blatt 65 der Gerichtakte). Zum weiteren Vortrag des Klägers wird auf die Klagebegründungsschrift vom 25.05.2010 nebst Anlagen verwiesen (vgl. Blatt 16 ff. der Gerichtsakte).

Während des Klageverfahrens änderte der Beklagte die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 2005 und 2006 aus hier unstreitigen Gründen durch Bescheide vom 14.06.2011. Darin wurden die Einkommensteuer 2005 auf X Euro und die Einkommensteuer 2006 auf X Euro festgesetzt. Auf Blatt 44 ff. der Gerichtsakte wird insofern verwiesen. Einwendungen gegen diese Änderungsbescheide erhob der Kläger nicht.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Änderungsbescheid zur Einkommensteuer 2003 vom 12.03.2009 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 16.12.2009 aufzuheben

sowie unter Änderung der Bescheide vom 14.06.2011 die Einkommensteuerfestsetzungen 2005 und 2006  dahingehend zu ändern, dass im Veranlagungszeitraum 2005 um X Euro und im Veranlagungszeitraum 2006 um X Euro geminderte Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung der Besteuerung zugrundegelegt werden.

und hilfsweise, für den Fall der vollständigen oder teilweisen Klageabweisung, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hält der Beklagte an seiner Einspruchsentscheidung fest.

Der Berichterstatter hat die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten am 25.01.2012 erörtert. Auf das Protokoll des Erörterungstermins wird Bezug genommen (vgl. Blatt 66 der Gerichtsakte).

Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung -FGO-).

Aus den Gründen

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Senat legt das Begehren des Klägers bezüglich der Veranlagungszeiträume 2005 und 2006 bei verständiger Würdigung seiner Interessenslage dahingehend aus, dass er anstrebt, die Einkommensteuerfestsetzungen 2005 und 2006 in den Änderungsbescheiden vom 14.06.2011 insoweit zu ändern, als dass die erstmals in den Änderungsbescheiden vom 19.04.2011 berücksichtigten um X Euro (VZ 2005) und um X Euro (VZ 2006) erhöhten Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nicht der Besteuerung zugrunde zu legen sind. Diese Auslegung beruht darauf, dass die Änderungsbescheide vom 14.06.2011 gemäß § 68 Satz 1 FGO zum Gegenstand des vorliegenden Klageverfahrens geworden sind, die Änderungen offensichtlich vom Kläger veranlasst wurden (vgl. Erläuterungen in den Änderungsbescheiden: „Die Änderung entspricht Ihrem Schreiben vom 19.04.2011") und der Kläger den Änderungen nicht entgegengetreten ist bzw. keine Einwendungen diesbezüglich erhoben hat.

Der Änderungsbescheid zur Einkommensteuer 2003 vom 12.03.2009 und die Einspruchsentscheidung vom 16.12.2009 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Darüber hinaus sind die zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen Änderungsbescheide zur Einkommensteuer 2005 und 2006 vom 14.06.2011 insoweit rechtwidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, als dass in diesen Bescheiden Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von X  Euro (VZ 2005) und in Höhe von X Euro (VZ 2006) zu Unrecht der Besteuerung zugrunde gelegt wurden.

Der Beklagte hat in den vorgenannten Bescheiden rechtsfehlerhaft im Verhältnis zu den ursprünglichen bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzungen 2003, 2005 und 2006 um X Euro (VZ 2003), um X Euro (VZ 2005) und um X Euro (VZ 2006) erhöhte Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung berücksichtigt. Ungeachtet des Umstandes, dass diese Erhöhungen unstreitig der materiellen Rechtslage entsprechen, war der Beklagte zu den streitbefangenen Änderungen nicht berechtigt, da ihm insofern keine formellen Änderungsmöglichkeiten der bestandskräftigen ursprünglichen Steuerfestsetzungen zur Seite stehen. Entgegen der Ansicht des Beklagten liegen die Voraussetzungen der Änderungsvorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht vor und weitere Änderungsvorschriften sind nicht ersichtlich und werden auch vom Beklagten nicht für einschlägig gehalten.

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Tatsache im Sinne dieser Vorschrift ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller und immaterieller Art (vgl. BFH, Urteil vom 07.07.2004 XI R 10/03, BFHE 206, 303, BStBl II 2004, 911). Keine Tatsachen in diesem Sinne sind Schlussfolgerungen aller Art, insbesondere juristische Subsumtionen (vgl. BFH, Urteil vom 14.01.1998 II R 9/97, BFHE 185, 117, BStBl II 1998, 371). Eine Tatsache ist nachträglich bekannt geworden, wenn sie das Finanzamt beim Erlass des zu ändernden Bescheides noch nicht kannte (vgl. BFH, Urteil vom 13.09.2001 IV R 79/99, BFHE 196, 195, BStBl II 2002, 2 m. w. N.). Maßgeblicher Zeitpunkt für den Kenntnisstand ist die abschließende Zeichnung des für die Steuerfestsetzung zuständigen Beamten (vgl. BFH, Urteil vom 27.11.2001 VIII R 3/01, BFH/NV 2002, 473). Bekannt ist der zuständigen Dienststelle insbesondere der Inhalt der dort geführten Akten (vgl. BFH, Urteil vom 13.01.2011 VII R 63/09, BFH/NV 2011, 743).

Nach diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für eine Änderung der Steuerfestsetzung gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht vor. Zwar handelt es sich bei den Umständen, dass der Kläger das Objekt B-Straße 2 in den Streitjahren nicht vollständig fremdvermietet hat, dass das bei der U Lebensversicherung AG aufgenommene Darlehen teilweise im wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Anschaffung des Vermietungsobjekts A-Straße 1 und teilweise im wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Anschaffung des Objekts B-Straße 2 stand, um Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Gleiches gilt für den Umstand, dass das bei der Bank 1 E  aufgenommene Darlehen nicht ausschließlich im wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Anschaffung des fremdvermieteten Teils des Objekts B-Straße stand. Diese Tatsachen sind dem Beklagten jedoch nicht nachträglich bekannt geworden. Denn die genannten Umstände waren aus dem Inhalt der Grundbesitzakte ohne weiteres erkennbar. Erkennbar waren aus der dort abgehefteten Anlage zur Einkommensteuererklärung 1995 insbesondere auch die unstreitig materiell richtigen Aufteilungsprozentsätze, wonach 26,4 % des Darlehens bei der U Lebensversicherung AG auf das Vermietungsobjekt A-Straße und der Rest auf das Gesamtobjekt B-Straße entfielen und wonach der vermietete Anteil des Objekts B-Straße 36,31 % betrug. Dass das Vermietungsobjekt B-Straße 2 nicht vollständig fremdvermietet war, sondern auch eigenen Wohnzwecken diente, war darüber hinaus aus den Eintragungen auf dem Überwachungsbogen für Gebäudeabschreibungen ersichtlich.

Angesichts der vorgenannten umfassenden, bereits aus der Grundbesitzakte ersichtlichen Informationen, kommt es auf die Frage, ob die genannten steuererheblichen Tatsachen auch aus den nach der Darstellung des Beklagten seinerzeit bereits archivierten Akten der Vorjahre ersichtlich waren und ob der Inhalt bereits archivierter Akten dem Finanzamt im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bekannt ist, nicht an.

Dem Beklagten ist zwar zuzugeben, dass sich die materiell zutreffende Aufteilung der Darlehen bzw. der hierauf entfallenden Schuldzinsen nicht allein aus den Einkommensteuererklärungen der Streitjahre ableiten lässt und dass die Erklärungen insofern nicht nur unvollständig sind, sondern die Werbungskosten auch zu Gunsten des Klägers falsch berechnet wurden. Hieraus ergibt sich eindeutig eine Verletzung der Mitwirkungspflichten des Klägers, der sich ein mögliches Fehlverhalten seines Beraters zurechnen lassen muss. Allerdings ist zur Beurteilung, was dem Beklagten zum Zeitpunkt der ursprünglichen Veranlagungen bereits bekannt war, nicht allein auf die Einkommensteuererklärungen, sondern auch auf den weiteren Inhalt der Akten, insbesondere auf den Inhalt der Grundbesitzakte abzustellen. Zudem führt die Mitwirkungspflichtverletzung des Klägers im Streitfall, entgegen der Auffassung des Beklagten, nicht dazu, die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO als erfüllt anzusehen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist der Aspekt der Mitwirkungspflichtverletzung des Steuerpflichtigen im Rahmen einer möglichen Einschränkung der Änderungsbefugnis gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nach den Grundsätzen von Treu und Glauben zu berücksichtigen. Eine solche Einschränkung der Änderungsbefugnis kommt danach dann in Betracht, wenn der Finanzbehörde die erst nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen und Beweismittel bei ordnungsgemäßer Erfüllung ihrer Amtsermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wären. Eine Einschränkung der Änderungsbefugnis greift aber nur ein, wenn der Steuerpflichtige seinerseits die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten in zumutbarer Weise erfüllt hat (vgl. BFH, Urteil vom 28.06.2006 XI R 58/05, BFHE 214, 319, BStBl II 2006, 835). Die Aspekte der Amtsermittlungspflicht der Finanzbehörde einerseits und der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen anderseits kommen somit nur dann zum Tragen, wenn die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO erfüllt sind und eine Einschränkung der tatbestandlich vorliegenden Änderungsbefugnis nach den Grundsätzen von Treu und Glauben in Betracht kommt. Liegen allerdings, wie im Streitfall, bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht vor, weil steuerlich relevante Tatsachen der Finanzbehörde bei der Veranlagung bereits bekannt waren, so eröffnen mögliche wechselseitige Pflichtverletzungen der am Besteuerungsverfahren Beteiligten keine Änderungsmöglichkeit gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.

Zusammenfassend ist der Klage somit unter Berücksichtigung der eingangs dargelegten Auslegung des Klagebegehrens vollumfänglich stattzugeben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

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