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Steuerrecht
05.11.2015
Steuerrecht
EuGH: Entstehung der Zollschuld bei Verbringen der Waren aus dem Zollgebiet

EuGH, Urteil vom 29.10.2015 – C-319/14, B & S Global Transit Center BV gegen Staatssecretaris van Financiën

Tenor

Die Art. 203 und 204 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1791/2006 des Rates vom 20. November 2006 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass eine Verletzung der Pflicht, eine in das externe gemeinschaftliche Versandverfahren überführte Ware der Bestimmungszollstelle zu gestellen, eine Zollschuld nicht auf der Grundlage von Art. 204 der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 1791/2006 geänderten Fassung, sondern auf der Grundlage von Art. 203 der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 1791/2006 geänderten Fassung entstehen lässt, wenn die betreffende Ware aus dem Zollgebiet der Europäischen Union verbracht wurde und der Inhaber dieses Verfahrens nicht in der Lage ist, Dokumente vorzulegen, die Art. 365 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung Nr. 2913/92 in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 993/2001 der Kommission vom 4. Mai 2001 oder Art. 366 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 2454/93 in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1192/2008 der Kommission vom 17. November 2008 entsprechen.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 203 und 204 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1791/2006 des Rates vom 20. November 2006 (ABl. L 363, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: ZK) sowie einiger Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung Nr. 2913/92 (ABl. L 253, S. 1, im Folgenden: ZK-DVO), nämlich der Art. 365 und 859 ZK-DVO in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 993/2001 der Kommission vom 4. Mai 2001 (ABl. L 141, S. 1, im Folgenden: Art. 365 ZK-DVO bzw. Art. 859 ZK-DVO) sowie des Art. 366 ZK-DVO in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1192/2008 der Kommission vom 17. November 2008 (ABl. L 329, S. 1, im Folgenden: Art. 366 ZK-DVO).

2          Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der B & S Global Transit Center BV (im Folgenden: B & S) und dem Staatssecretaris van Financiën (Finanzstaatssekretär) über die Entrichtung der Zölle, die B & S schulden soll, weil sie durch unterlassene Beendigung von externen gemeinschaftlichen Versandverfahren (im Folgenden: Versandverfahren) Waren, die sie in diese Verfahren überführt hatte, der zollamtlichen Überwachung entzogen haben soll.

Rechtlicher Rahmen

Zollkodex

3          Art. 37 ZK bestimmt:

„(1) Waren, die in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbracht werden, unterliegen vom Zeitpunkt des Verbringens an der zollamtlichen Überwachung. Sie können nach dem geltenden Recht Zollkontrollen unterzogen werden.

(2) Sie bleiben so lange unter zollamtlicher Überwachung, wie es für die Ermittlung ihres zollrechtlichen Status erforderlich ist, und, im Fall von Nichtgemeinschaftswaren unbeschadet des Artikels 82 Absatz 1, bis sie ihren zollrechtlichen Status wechseln, in eine Freizone oder ein Freilager verbracht, wiederausgeführt oder nach Artikel 182 vernichtet oder zerstört werden.“

4          Art. 91 Abs. 1 ZK lautet wie folgt:

„Im externen Versandverfahren können folgende Waren zwischen zwei innerhalb des Zollgebiets der Gemeinschaft gelegenen Orten befördert werden:

a) Nichtgemeinschaftswaren, ohne dass diese Waren Einfuhrabgaben, anderen Abgaben oder handelspolitischen Maßnahmen unterliegen;

…“

5          Art. 92 ZK sieht vor:

„(1) Das externe Versandverfahren endet und die Verpflichtungen des Inhabers des Verfahrens sind erfüllt, wenn die in dem Verfahren befindlichen Waren und die erforderlichen Dokumente entsprechend den Bestimmungen des betreffenden Verfahrens am Bestimmungsort der dortigen Zollstelle gestellt werden.

(2) Die Zollbehörden erledigen das externe Versandverfahren, wenn für sie auf der Grundlage eines Vergleichs der der Abgangszollstelle zur Verfügung stehenden Angaben mit den der Bestimmungszollstelle zur Verfügung stehenden Angaben ersichtlich ist, dass das Verfahren ordnungsgemäß beendet ist.“

6          Art. 96 Abs. 1 ZK bestimmt:

„Der Hauptverpflichtete ist der Inhaber des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens. Er hat

die Waren innerhalb der vorgeschriebenen Frist unter Beachtung der von den Zollbehörden zur Nämlichkeitssicherung getroffenen Maßnahmen unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen;

b) die Vorschriften über das gemeinschaftliche Versandverfahren einzuhalten.“

7          Art. 203 ZK sieht vor:

„(1) Eine Einfuhrzollschuld entsteht,

– wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.

(2) Die Zollschuld entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.

(3) Zollschuldner sind:

– die Person, welche die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen hat;

…“

8          Art. 204 Abs. 1 ZK schreibt vor:

„Eine Einfuhrzollschuld entsteht, wenn in anderen als den in Artikel 203 genannten Fällen

a) eine der Pflichten nicht erfüllt wird, die sich bei einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware aus deren vorübergehender Verwahrung oder aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das sie übergeführt worden ist, ergeben, …

… es sei denn, dass sich diese Verfehlungen nachweislich auf die ordnungsgemäße Abwicklung der vorübergehenden Verwahrung oder des betreffenden Zollverfahrens nicht wirklich ausgewirkt haben.“

9          Art. 239 ZK lautet:

„(1) Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben können in anderen als den in den Artikeln 236, 237 und 238 genannten Fällen erstattet oder erlassen werden; diese Fälle

– werden nach dem Ausschussverfahren festgelegt;

– ergeben sich aus Umständen, die nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind. Nach dem Ausschussverfahren wird festgelegt, in welchen Fällen diese Bestimmung angewandt werden kann und welche Verfahrensvorschriften dabei zu beachten sind. Die Erstattung oder der Erlass kann von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht werden.

(2) Die Erstattung oder der Erlass der Abgaben aus den in Absatz 1 genannten Gründen erfolgt auf Antrag; dieser ist innerhalb von zwölf Monaten nach der Mitteilung der Abgaben an den Zollschuldner bei der zuständigen Zollstelle zu stellen.

Jedoch können

– in begründeten Ausnahmefällen die Zollbehörden diese Frist verlängern,

– in bestimmten Fällen kürzere Fristen im Ausschussverfahren festgelegt werden.“

Durchführungsverordnung

10        Art. 365 ZK-DVO, der bis zum 30. Juni 2009 in Kraft war, sah vor:

„(1) Geht das Exemplar Nr. 5 der Versandanmeldung nicht innerhalb von zwei Monaten nach Annahme der Versandanmeldung bei den Zollbehörden des Abgangsmitgliedstaats ein, so benachrichtigen diese den Hauptverpflichteten und fordern ihn auf, den Nachweis für die Beendigung des Verfahrens zu erbringen.

(1a) Finden die Bestimmungen des Abschnitts 2 Unterabschnitt 7 Anwendung und ist die ‚Eingangsbestätigung‘ nicht innerhalb der Frist, in der die Waren der Bestimmungsstelle gestellt werden müssen, bei den Zollbehörden des Abgangsmitgliedstaats eingegangen, so setzen diese den Hauptverpflichteten davon in Kenntnis und fordern ihn auf, einen Nachweis für die Beendigung des Verfahrens zu erbringen.

(2) Der in Absatz 1 genannte Nachweis kann durch Vorlage einer von den Zollbehörden anerkannten Bescheinigung der Zollbehörden des Bestimmungsmitgliedstaats erbracht werden, die Angaben zur Identifizierung der betreffenden Waren enthält und aus der hervorgeht, dass die Waren bei der Bestimmungsstelle oder, in Fällen nach Artikel 406, bei einem zugelassenen Empfänger gestellt worden sind.

(3) Ein gemeinschaftliches Versandverfahren gilt ebenfalls als beendet, wenn der Hauptverpflichtete ein von den Zollbehörden anerkanntes Zollpapier über den Erhalt einer zollrechtlichen Bestimmung der Waren in einem Drittland oder eine Abschrift oder Fotokopie dieses Zollpapiers vorlegt, das Angaben zur Identifizierung der betreffenden Waren enthält. Abschriften und Fotokopien dieses Papiers müssen von der Stelle, die das Original mit ihrem Sichtvermerk versehen hat, oder von einer Behörde des betreffenden Drittlandes oder eines der Mitgliedstaaten beglaubigt sein.“

11        Art. 366 ZK-DVO, der seit dem 1. Juli 2008 in Kraft ist, bestimmt:

„(1) Der Nachweis, dass das Versandverfahren innerhalb der in der Versandanmeldung genannten Frist beendet wurde, kann von dem Hauptverpflichteten durch Vorlage einer von den Zollbehörden des Abgangsmitgliedstaats anzuerkennenden Bescheinigung, die mit Sichtvermerk der Zollbehörden des Bestimmungsmitgliedstaats versehen ist, die Angaben zur Identifizierung der betreffenden Waren enthält und aus der hervorgeht, dass die Waren bei der Bestimmungsstelle gestellt oder in Fällen nach Artikel 406 einem zugelassenen Empfänger übergeben worden sind, erbracht werden.

(2) Ein Versandverfahren gilt ebenfalls als beendet, wenn der Hauptverpflichtete eines der folgenden, von den Zollbehörden des Abgangsmitgliedstaats anerkannten Dokumente mit Angaben zur Identifizierung der betreffenden Waren vorlegt:

a) ein in einem Drittland ausgestelltes Zollpapier, mit dem die Waren eine zulässige zollrechtliche Bestimmung erhalten haben,

b) ein in einem Drittland ausgestelltes und von den Zollbehörden dieses Landes mit einem Sichtvermerk versehenes Dokument, das bescheinigt, dass sich die Waren in dem betreffenden Drittland im freien Verkehr befinden.

(3) Anstelle der in Absatz 2 genannten Unterlagen können Kopien oder Photokopien vorgelegt werden, die von der Zollbehörde, die die Originaldokumente mit einem Sichtvermerk versehen hat, den Behörden der betreffenden Drittländer oder den Behörden eines der Mitgliedstaaten beglaubigt wurden.“

12        Art. 859 ZK-DVO lautet wie folgt:

„Folgende Verfehlungen gelten im Sinne des Artikels 204 Absatz 1 des Zollkodex als Verfehlungen, die sich auf die ordnungsgemäße Abwicklung der vorübergehenden Verwahrung oder des betreffenden Zollverfahrens nicht wirklich ausgewirkt haben, sofern

– es sich nicht um den Versuch handelt, die Waren der zollamtlichen Überwachung zu entziehen;

– keine grobe Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt;

– alle notwendigen Förmlichkeiten erfüllt werden, um die Situation der Waren zu bereinigen:

6. im Fall einer Ware in vorübergehender Verwahrung oder in einem Zollverfahren das Verbringen dieser Ware aus dem Zollgebiet der Gemeinschaft oder in eine Freizone des Kontrolltyps I im Sinne von Artikel 799 oder ein Freilager ohne Erfüllung der vorgeschriebenen Zollförmlichkeiten;

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13        Am 3. Juli 2006, am 13. August 2007 und am 18. Dezember 2007 nahm B & S, eine Logistik-Dienstleisterin, als Hauptverpflichtete elektronische Anmeldungen vor, um Lebensmittel in das Versandverfahren zu überführen. Diese Anmeldungen nannten jeweils Moerdijk (Niederlande) als Abgangszollstelle und Bremerhaven (Deutschland), Antwerpen (Belgien) bzw. abermals Bremerhaven als Bestimmungszollstellen.

14        Am 4. August 2006, am 26. September 2007 und am 24. Januar 2008 teilte die Abgangszollstelle B & S mit, dass sie weder den erforderlichen Rückschein noch die elektronische Rückmeldung erhalten habe. Auf die Aufforderung der Abgangszollstelle, den Nachweis für die ordnungsgemäße Beendigung der betreffenden Verfahren beizubringen, legte B & S mehrere Versandhandelspapiere mit der Bezeichnung „bills of lading“ vor.

15        Auf Suchantrag des Inspektors der Finanzverwaltung (Inspecteur van de Belastingdienst, im Folgenden: Inspektor) gaben die Bestimmungszollstellen an, dass ihnen weder eine Ware gestellt noch ein entsprechendes Versandpapier vorgelegt worden sei. Vor diesem Hintergrund richtete der Inspektor, nach dessen Ansicht die von B & S übermittelten Handelspapiere weder Art. 365 noch Art. 366 ZK-DVO entsprachen, weshalb die Versandverfahren nicht als beendet gelten könnten, am 24. Mai 2007, am 1. Juli 2008 und am 4. November 2008 auf der Grundlage von Art. 203 ZK Zahlungsaufforderungen für Zölle an B & S und begründete dies damit, dass sie die betreffenden Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen habe.

16        B & S legte gegen zwei Zahlungsaufforderungen Einspruch ein und stellte hinsichtlich des dritten Bescheids einen Antrag auf Erstattung. In diesem Zusammenhang reichte B & S zusätzliche Unterlagen ein, insbesondere Bestätigungen über den Empfang der in Rede stehenden Waren, die von deren Empfängern, d. h. von den Streitkräften der Vereinten Nationen (VN) in Abidjan (Elfenbeinküste), den Streitkräften der Nordatlantik-Vertragsorganisation (NATO) in Kabul (Afghanistan) und den Streitkräften der VN in Port-au-Prince (Haiti) ausgestellt worden waren. Da der Inspektor diese neuen Dokumente nicht für ausreichend erachtete, entschied er, die Zahlungsaufforderungen aufrechtzuerhalten.

17        B & S focht die Bescheide des Inspektors bei der Rechtbank Haarlem (Gericht Haarlem) an. Letztere hob diese Bescheide mit der Begründung auf, dass anhand der von B & S vorgelegten Dokumente festgestellt werden könne, dass es sich im Sinne von Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK in Verbindung mit Art. 859 Nr. 6 ZK-DVO um eine Verfehlung handele, die sich auf die ordnungsgemäße Abwicklung der betreffenden Verfahren nicht wirklich ausgewirkt habe, da mit den von B & S vorgelegten Dokumenten die Verbringung der Waren aus dem Zollgebiet der Europäischen Union nachgewiesen worden sei.

18        Der Inspektor legte gegen dieses Urteil der Rechtbank Haarlem (Gericht Haarlem) Berufung beim Gerechtshof te Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) ein. Der Gerechtshof entschied in erster Linie, dass der Inspektor zu Recht den Standpunkt eingenommen habe, dass keine der Waren im Sinne der Art. 92 und 96 ZK der Bestimmungszollstelle gestellt worden sei. Er stellte ferner fest, dass keines der von B & S vorgelegten Dokumente die in Art. 365 Abs. 3 bzw. Art. 366 Abs. 2 und 3 ZK-DVO vorgesehenen zwingenden Bedingungen erfülle. Schließlich entschied der Gerechtshof te Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) unter Verweis auf das Urteil Hamann International (C337/01, EU:C:2004:90), dass die unterlassene Beendigung der Versandverfahren trotz der Verbringung der Waren aus dem Zollgebiet der Union eine Entziehung dieser Waren aus der zollamtlichen Überwachung darstelle und dazu führe, dass gemäß Art. 203 ZK eine Zollschuld entstanden sei.

19        B & S legte gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht, dem Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande), Kassationsbeschwerde ein. Nach Ansicht dieses Gerichts hat der Gerechtshof te Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) zu Recht entschieden, dass die in Rede stehenden Versandverfahren nicht im Sinne von Art. 92 ZK beendet seien und nicht im Sinne von Art. 365 Abs. 3 oder Art. 366 Abs. 2 und 3 ZK-DVO als beendet gelten könnten. Nach Auffassung dieses Gerichts könnte jedoch das Urteil X (C-480/12, EU:C:2014:329) dahin verstanden werden, dass die Entstehung einer Zollschuld nach Art. 203 ZK ausgeschlossen ist, wenn es nachweislich nicht dazu gekommen ist, dass die Waren ohne zollrechtliche Abfertigung in den Wirtschaftskreislauf der Union eingeführt wurden.

20        Für den Fall, dass eine Verletzung der Pflicht, das Versandverfahren ordnungsgemäß zu beenden, keine Entziehung der Ware aus der zollamtlichen Überwachung darstellt, stellt sich das vorlegende Gericht die Frage, ob von einer solchen Verfehlung angenommen werden kann, dass sie sich im Sinne von Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK in Verbindung mit Art. 859 dritter Gedankenstrich und Nr. 6 ZK-DVO auf die ordnungsgemäße Abwicklung dieses Verfahrens nicht wirklich ausgewirkt hat.

21        Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Sind die Art. 203 und 204 ZK in Verbindung mit Art. 859 (insbesondere Nr. 6) ZK-DVO dahin auszulegen, dass in Fällen, in denen das Versandverfahren nicht beendet wurde, aber sehr wohl Dokumente vorgelegt wurden, die glaubhaft machen, dass die Waren aus dem Zollgebiet der Europäischen Union verbracht wurden, diese Nichtbeendigung nicht zum Entstehen einer Zollschuld wegen Entziehung von Waren aus der zollamtlichen Überwachung im Sinne von Art. 203 ZK führt, sondern im Prinzip zum Entstehen einer Zollschuld aufgrund von Art. 204 ZK?

2.

Ist Art. 859 Nr. 6 ZK-DVO dahin auszulegen, dass diese Bestimmung ausschließlich die Nichterfüllung von (einer der) Pflichten im Zusammenhang mit der (Wieder-)Ausfuhr von Waren betrifft, wie in den Art. 182 bis 183 ZK beschrieben? Oder soll der Satzteil „ohne Erfüllung der vorgeschriebenen Zollförmlichkeiten“ so aufgefasst werden, dass unter „vorgeschriebenen Zollförmlichkeiten“ auch Förmlichkeiten verstanden werden, die vor der (Wieder-)Ausfuhr zu erledigen sind, um das Zollverfahren, in das die Waren überführt wurden, zu beenden?

3.

Ist Art. 859 dritter Gedankenstrich ZK-DVO im Fall der Bejahung der letzten Frage dahin auszulegen, dass der Umstand, dass die vorstehend in Frage 2 genannten Zollförmlichkeiten nicht erledigt sind, es nicht ausschließt, dass in einem Fall wie dem hier vorliegenden – in dem anhand von Dokumenten nachgewiesen ist, dass die Waren im Anschluss an den Versand innerhalb der Europäischen Union aus dem Zollgebiet der Union verbracht wurden – die Voraussetzung, dass „alle notwendigen Förmlichkeiten erfüllt werden, um die Situation der Waren zu bereinigen“, als erfüllt angesehen wird?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

22        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 203 und 204 ZK dahin auszulegen sind, dass eine Verletzung der Pflicht, eine in das Versandverfahren überführte Ware der Bestimmungszollstelle zu gestellen, im Prinzip eine Zollschuld auf der Grundlage von Art. 204 ZK und nicht auf der Grundlage von Art. 203 ZK entstehen lässt, wenn die betreffende Ware aus dem Zollgebiet der Union verbracht wurde und der Inhaber dieses Verfahrens nicht in der Lage ist, Dokumente vorzulegen, die Art. 365 Abs. 3 oder Art. 366 Abs. 2 und 3 ZK-DVO entsprechen.

23        Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach den Angaben des vorlegenden Gerichts zum einen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Waren ihren jeweiligen Bestimmungszollstellen nicht gestellt wurden und zum anderen die in den Rn. 14 und 16 des vorliegenden Urteils genannten Dokumente, die dem Inspektor von B & S vorgelegt wurden, belegen, dass diese Waren tatsächlich aus dem Zollgebiet der Union verbracht wurden. Das vorlegende Gericht geht jedoch davon aus, dass diese Dokumente nicht den Beweisanforderungen nach Art. 365 Abs. 3 bzw. Art. 366 Abs. 2 und 3 ZK-DVO genügen.

24        Aus diesen Umständen schließt das vorlegende Gericht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Versandverfahren nicht im Sinne von Art. 92 Abs. 1 ZK beendet sind und auch nicht im Sinne von Art. 365 Abs. 3 oder Art. 366 Abs. 2 und 3 ZK-DVO als beendet gelten können. Keiner der am Verfahren vor dem Gerichtshof Beteiligten hat diese Schlussfolgerungen in Frage gestellt.

25        Zu den jeweiligen Geltungsbereichen der Art. 203 und 204 ZK ist zu bemerken, dass es sich um unterschiedliche Geltungsbereiche handelt. Während nämlich Ersterer Handlungen betrifft, die dazu führen, dass die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird, bezieht sich Letzterer auf Pflichtverletzungen und die Nichterfüllung von Voraussetzungen im Zusammenhang mit den verschiedenen Zollverfahren, die sich auf die zollamtliche Überwachung nicht ausgewirkt haben (Urteil DSV Road, C187/14, EU:C:2015:421, Rn. 22).

26        Art. 204 ZK findet nach seinem Wortlaut nur in den Fällen Anwendung, die nicht unter Art. 203 ZK fallen (Urteil DSV Road, C187/14, EU:C:2015:421, Rn. 23).

27        Um entscheiden zu können, auf der Grundlage welches dieser beiden Artikel eine Einfuhrzollschuld entstanden ist, ist daher in erster Linie zu prüfen, ob die betreffenden Handlungen eine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung im Sinne von Art. 203 Abs. 1 ZK darstellen. Nur wenn dies zu verneinen ist, kann eine Anwendung von Art. 204 ZK in Betracht kommen (Urteil DSV Road, C187/14, EU:C:2015:421, Rn. 24).

28        Speziell zum Begriff der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung in Art. 203 Abs. 1 ZK ist darauf hinzuweisen, dass dieser Begriff nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs so zu verstehen ist, dass er jede Handlung oder Unterlassung umfasst, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde auch nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und an der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 ZK vorgesehenen Kontrollen gehindert wird (Urteil DSV Road, C187/14, EU:C:2015:421, Rn. 25).

29        Für eine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung genügt es, dass die Ware etwaigen zollamtlichen Überprüfungen objektiv entzogen wurde, unabhängig davon, ob diese von der zuständigen Behörde tatsächlich vorgenommen worden wären (Urteil SEK Zollagentur, C75/13, EU:C:2014:1759, Rn. 32).

30        Im Hinblick auf die in den Rn. 25 bis 29 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung ist festzustellen, dass die in den Rn. 23 und 24 des vorliegenden Urteils beschriebene Situation des Ausgangsverfahrens nicht in den Geltungsbereich von Art. 204 ZK, sondern in den von Art. 203 ZK fällt.

31        Wie der Generalanwalt in den Nrn. 25 und 26 seiner Schlussanträge dargelegt hat, spielt die in Art. 96 Abs. 1 Buchst. a ZK vorgesehene Pflicht des Inhabers eines Versandverfahrens, die Ware der Bestimmungszollstelle zu gestellen, für das Funktionieren der zollamtlichen Überwachung im Rahmen eines solchen Verfahrens eine entscheidende Rolle, da diese Gestellung es den Zollbehörden gemäß Art. 92 Abs. 2 ZK ermöglicht, auf der Grundlage eines Abgleichs der Angaben, die der Abgangszollstelle und der Bestimmungszollstelle jeweils zur Verfügung stehen, festzustellen, ob das Versandverfahren ordnungsgemäß beendet ist.

32        Daher führt eine Verletzung der Pflicht, die Ware der Bestimmungszollstelle zu gestellen, bevor sie das Zollgebiet der Union verlässt, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens dazu, dass die zuständigen Behörden daran gehindert werden, eine der in Art. 37 Abs. 1 ZK genannten Zollkontrollen durchzuführen, nämlich die in Art. 92 Abs. 2 ZK vorgesehene, die für die Abwicklung des Versandverfahrens wesentlich ist, da sie diesen Behörden die Feststellung erlaubt, ob das Versandverfahren ordnungsgemäß beendet wurde. Eine solche Verfehlung stellt eine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung im Sinne von Art. 203 ZK dar, wenn auch die Anforderungen von Art. 365 Abs. 3 bzw. Art. 366 Abs. 2 und 3 ZK-DVO, nach denen ein solches Verfahren als beendet angesehen werden kann, obwohl die Ware der Bestimmungszollstelle nicht gestellt wurde, nicht erfüllt sind.

33        Soweit die Europäische Kommission vorbringt, dass hier keine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung vorliegen könne, weil sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Waren bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie aus dem Zollgebiet der Union verbracht worden seien, unter der Überwachung der Zollbehörden befunden hätten, ist festzustellen, dass B & S diese Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen hat, noch bevor sie das Zollgebiet der Union verlassen haben, indem sie es versäumt hat, ihre Pflicht aus Art. 96 Abs. 1 Buchst. a ZK zu erfüllen, diese Waren vor ihrer Verbringung aus diesem Gebiet ihren jeweiligen Bestimmungszollstellen zu gestellen.

34        Außerdem spricht die bloße Tatsache, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Waren aus dem Zollgebiet der Union verbracht wurden, nicht dagegen, dass eine Verletzung der Pflicht, diese Waren den jeweiligen Bestimmungszollstellen zu gestellen, als „Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung“ gewertet wird, die eine Zollschuld auf der Grundlage von Art. 203 ZK entstehen lässt. Der Gerichtshof hat eine solche Entziehung nämlich auch schon ungeachtet dessen bejaht, dass die betreffenden Waren nicht unrechtmäßig in den Wirtschaftskreislauf der Union eingeführt worden waren.

35        So hat der Gerichtshof im Urteil Hamann International (C337/01, EU:C:2004:90), wie sich insbesondere aus den Rn. 21 bis 24, 32 und 36 jenes Urteils ergibt, entschieden, dass die Verletzung der Pflicht, eine Ware in das Versandverfahren zu überführen, im Hinblick auf die Umstände der jenem Urteil zugrunde liegenden Rechtssache eine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung im Sinne von Art. 203 ZK darstellt, obwohl die betreffende Ware aus dem Hoheitsgebiet der Union verbracht worden war. Im Urteil SEK Zollagentur (C75/13, EU:C:2014:1759) hat der Gerichtshof, wie sich u. a. aus den Rn. 18 und 33 jenes Urteils ergibt, den Standpunkt eingenommen, dass es als Entziehung der im Versandschein bezeichneten Waren aus der zollamtlichen Überwachung im Sinne dieses Artikels anzusehen ist, wenn der Versandschein vorübergehend von den Waren entfernt wird, obwohl die betreffenden Waren durch ihre Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr ordnungsgemäß in den Wirtschaftskreislauf der Union eingeführt worden waren.

36        Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der wirtschaftliche Charakter der Einfuhrabgaben nicht dagegen spricht, dass eine Zollschuld, wenn die Waren aus dem Zollgebiet der Union verbracht wurden, auf der Grundlage von Art. 203 Abs. 1 ZK entsteht, da Art. 239 ZK unter bestimmten Voraussetzungen die Erstattung oder den Erlass der gesetzlich geschuldeten Abgaben vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteil Hamann International, C337/01, EU:C:2004:90, Rn. 34).

37        Schließlich kann die Feststellung in Rn. 30 des vorliegenden Urteils auch nicht durch das vom vorlegenden Gericht ausgeführte und von B & S vorgebrachte Argument in Frage gestellt werden, dass sich aus dem Urteil X (C480/12, EU:C:2014:329) ergebe, dass die Verletzung der Pflicht, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Waren ihren jeweiligen Bestimmungszollstellen zu gestellen, keine Zollschuld auf der Grundlage von Art. 203 ZK entstehen lasse, da die Verbringung dieser Waren aus dem Gebiet der Union die Gefahr beseitigt habe, dass diese Waren unrechtmäßig in den Wirtschaftskreislauf der Union eingeführt würden.

38        Aus Rn. 37 jenes Urteils sowie aus der Darstellung des Sachverhalts der jenem Urteil zugrunde liegenden Rechtssache ergibt sich nämlich, dass es einen Fall betraf, in dem die in Rede stehenden Waren der Bestimmungszollstelle, wenn auch verspätet, gestellt worden waren. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Waren sind jedoch ihren jeweiligen Bestimmungszollstellen überhaupt nicht gestellt worden, und die Behörden konnten sich daher nicht vergewissern, dass das Versandverfahren ordnungsgemäß beendet wurde.

39        Wie der Generalanwalt in den Nrn. 30 und 31 seiner Schlussanträge im Hinblick auf die in Rn. 35 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung dargelegt hat, kann aus dem Urteil X (C480/12, EU:C:2014:329) nicht abgeleitet werden, dass es einen allgemeinen Grundsatz aufstellt, wonach der bloße Nachweis, dass Waren nicht unrechtmäßig in den Wirtschaftskreislauf der Union eingeführt worden sind, für sich ausreicht, um das Vorliegen einer Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung oder das Entstehen einer Zollschuld nach Art. 203 ZK auszuschließen.

40        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 203 und 204 ZK dahin auszulegen sind, dass eine Verletzung der Pflicht, eine in das Versandverfahren überführte Ware der Bestimmungszollstelle zu gestellen, eine Zollschuld nicht auf der Grundlage von Art. 204 ZK, sondern auf der Grundlage von Art. 203 ZK entstehen lässt, wenn die betreffende Ware aus dem Zollgebiet der Union verbracht wurde und der Inhaber dieses Verfahrens nicht in der Lage ist, Dokumente vorzulegen, die Art. 365 Abs. 3 oder Art. 366 Abs. 2 und 3 ZK-DVO entsprechen.

Zur zweiten und zur dritten Frage

41        Es ist festzustellen, dass Art. 859 ZK-DVO, der Gegenstand der zweiten und der dritten Frage ist, in den unter Art. 203 ZK fallenden Fällen nicht zur Anwendung kommt. Angesichts der Antwort auf die erste Frage sind daher die zweite und die dritte Frage nicht zu beantworten.

Kosten

42        Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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