R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
Arbeitsrecht
21.06.2018
Arbeitsrecht
LAG Berlin-Brandenburg: Schadenersatz wegen unterbliebener Wiedereingliederung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers

LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.5.2018 – 15 Sa 1700/17

Volltext: BB-ONLINE BBL2018-1523-5

unter www.betriebs-berater.de

Amtliche Leitsätze

1. Ein schwerbehinderter Arbeitnehmer kann  nach § 81 Abs. 4 S. 1 SGB IX a.F. eine anderweitige Tätigkeit auch im Rahmen einer Wiedereingliederung verlangen.

2. Versäumt es der Arbeitgeber schuldhaft, die behinderungsgerechte Beschäftigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers nach § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 bis 5 SGB IX zu ermöglichen, hat der Arbeitnehmer einen Schadensersatzanspruch in Höhe der entgangenen Vergütung.

§§ 280 Abs. 1, 823 Abs. 2 BGB;  § 81 Abs. 4 S. 1 SGB IX

Sachverhalt

Die Parteien streiten über Schadenersatzansprüche wegen einer verspäteten Durchführung einer Wiedereingliederungsmaßnahme nach dem so genannten Hamburger Modell.

Die Klägerin, die als schwer behinderter Mensch anerkannt ist, ist seit 1999 bei dem beklagten Land als Lehrerin gegen eine monatliche Vergütung i.H.v. 3.601,49 € brutto beschäftigt.

Seit dem 01.10.2013 war sie arbeitsunfähig erkrankt. Unter dem 20.01.2015 beantragte sie die Durchführung einer Wiedereingliederung, wobei sie hierzu eine ärztliche Bescheinigung (Bl. 79 d.A.) vorlegte. Dort ist als Zeitpunkt der Wiederherstellung der vollen Arbeitsfähigkeit der 28.03.2015 angegeben. Das beklagte Land lehnte dies ab. Nachdem die Klägerin eine weitere ärztliche Bescheinigung zur Wiedereingliederung (Bl. 80 d.A.) vorgelegt hatte, schlossen die Parteien unter dem 09.03.2015 einen Vertrag über eine stufenweise Wiedereingliederung (Bl. 22 d.A.). Wegen der Osterferien führten die Parteien einvernehmlich diesen Vertrag abweichend durch. In der Zeit vom 07.04.2015 bis 28.04.2015 leistete die Klägerin 10 Unterrichtsstunden pro Woche, vom 29. 04.2015 bis 12.05.2015 16 Unterrichtsstunden pro Woche. Ab dem 13.05.2015 arbeitete sie wieder in Vollzeit mit 26 Unterrichtsstunden pro Woche.

Während der Wiedereingliederung erhielt die Klägerin von dem beklagten Land eine Vergütung. Hätte sie am 07.04.2015 ihre volle Arbeitsfähigkeit erreicht, hätte sie weitere 1.680,70 € für April 2015 und für Mai 2015 zusätzlich 597,48 € erhalten. Mit E-Mail vom 27.03.2015 forderte der Klägervertreter das beklagte Land auf, den Schadensersatzanspruch der Klägerin dem Grunde nach anzuerkennen.

Die Klägerin hat erstinstanzlich die Auffassung vertreten, sie habe als schwerbehinderter Mensch einen Anspruch auf Beschäftigung im Rahmen einer stufenweisen Wiedereingliederung.

Sie hat nach einer Teilrücknahme zuletzt beantragt,

                den Beklagten zu verurteilen, an sie zahlen: 2.278,18 € brutto nebst Zinsen

i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 1.680,70 € seit dem 01.05.2015 und aus 597,40 € seit dem 01.06.20.15.

Das beklagte Land hat beantragt,

                die Klage abzuweisen.

Mit Urteil vom 22. 11. 2017 hat das Arbeitsgericht Berlin die Klage abgewiesen. Die darlegungsbelastete Klägerin habe nicht vorgetragen, dass die aus ihrer Sicht verspätete Wiedereingliederung für ihren Schaden kausal gewesen sei. Sie habe keine Erklärung ihrer Ärzte dargelegt oder beigebracht, aus der sich ergebe, dass sie bei einer Wiedereingliederung ab dem 09.02.2015 mit dem 07.04.2015 nicht mehr arbeitsunfähig gewesen wäre. Auch sei der Vortrag der Klägerin zur Höhe des Anspruchs sei nicht nachvollziehbar.

Hiergegen wendet sich die Berufung der Klägerin. Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für fehlerhaft. Die Kausalität sei nie bestritten worden. Dass sie bei einem früheren Beginn der Wiedereingliederungsmaßnahme zum 07.04.2015 wieder arbeitsfähig geworden wäre, dafür biete sie Beweis durch das Zeugnis des behandelnden Arztes und eines Sachverständigen an.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Berlin vom 22.11.2017 zum Aktenzeichen      21 Ca 2048/17 den Beklagten zu verurteilen, an sie 2.278,18 € brutto nebst Zinsen i.H.v. 5        Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 1.680,70 € seit dem 01.05.2015 und aus 597,40 €               seit dem 01.06.20.15 zu zahlen.

Das beklagte Land beantragt,

                die Berufung zurückzuweisen.

Es fehle an einer ärztlichen Erklärung, dass ab dem 07.04.2015 wieder eine Vollzeittätigkeit möglich sei. Ein pauschaler Hinweis zur Kausalität reiche nicht. Der Wiedereingliederungsplan hätte auch erläutert werden müssen.

Aus den Gründen

Die form- und fristgerecht eingereichte und begründete Berufung ist zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Zu Unrecht hat das Arbeitsgericht Berlin den Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz abgewiesen. Insofern war das Urteil abzuändern und das beklagte Land zu verurteilen, an die Klägerin 2.278,18 € brutto nebst Zinsen zu zahlen.

Ein schwerbehinderter Arbeitnehmer kann nach § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX a.F. (ab 1.1.2018: § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX) eine anderweitige Tätigkeit auch im Rahmen einer Wiedereingliederung verlangen (BAG 13.06.2006 – 9 AZR 229/05 – NZA 2007, 91 Rn. 26). Dies setzt allerdings voraus, dass der Arbeitnehmer eine ärztliche Bescheinigung eines behandelnden Arztes vorlegt, aus der sich Art und Weise der empfohlenen Beschäftigung, Beschäftigungsbeschränkungen, Umfang der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit sowie die Dauer der Maßnahme ergeben. Diese muss ferner eine Prognose enthalten, wann voraussichtlich die  Wiederaufnahme der Tätigkeit erfolgt (BAG a.a.O. Rn. 31). Versäumt es der Arbeitgeber schuldhaft, die behinderungsgerechte Beschäftigung eines schwer behinderten Arbeitnehmers nach § 81 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 bis 5 SGB IX zu ermöglichen, hat der Arbeitnehmer einen Schadensersatzanspruch in Höhe der entgangenen Vergütung nach § 280 Abs. 1 BGB sowie aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 81 Abs. 4 S. 1 SGB IX (BAG 04.10.2005 – 9 AZR 632/04 – NZA 2006, 442 Rn. 22; BAG 06.12.2017 – 5 AZR 815/16 – NZA 2018, 439 Rn. 19).

Bei Anwendung dieser Kriterien steht der Klägerin der geltend gemachte Schadensersatzanspruch zu. In der Berufungsverhandlung hat das beklagte Land eine ärztliche Bescheinigung vom 20.01.2015 im Original vorgelegt, dessen Vorlage schon erstinstanzlich im Kammertermin angeboten worden war. Diese Bescheinigung war auf dem vorgesehenen Formular erteilt worden und enthielt alle Angaben, die nach der Rechtsprechung des BAG erforderlich sind. Insbesondere war dort der Zeitpunkt der Wiederherstellung der vollen Arbeitsunfähigkeit mit dem 28.03.2015 angegeben worden. Unerheblich ist, dass dort nur eine einzige Stufe im Rahmen der Wiedereingliederung angegeben war. Es ist nicht ersichtlich, dass bei einer Maßnahme zur stufenweisen Wiedereingliederung gemäß § 74 SGB V oder § 28 SGB IX a.F. notwendigerweise jeweils mehr als eine Stufe vorzusehen ist. Das beklagte Land hat den Anspruch der Klägerin auch schuldhaft verletzt. Insbesondere hat es nicht vorgetragen, dass ihm nach § 81 Abs. 4 S. 3 SGB IX a.F. die Erfüllung dieses Anspruchs unzumutbar oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden gewesen wäre. Da in der ärztlichen Bescheinigung für den ersten Wiedereingliederungsplan die Wiederherstellung der vollen Arbeitsfähigkeit mit dem 28.03.2015 prognostiziert worden war, ist hinsichtlich der Kausalität auch anzunehmen, dass bei einem entsprechend früheren Beginn am 09.02.2015 diese Prognose sich bewahrheitet hätte. Das beklagte Land hat auch keine Indizien dafür benannt, dass insofern die ärztliche Bescheinigung fehlerhaft gewesen wäre.

Der klägerische Anspruch ist nicht wegen Nichteinhaltung der tariflichen Ausschlussfrist verfallen. Die E-Mail von 27.03.2015 reicht insofern aus. Dem Schriftformerfordernis wird auch durch eine E-Mail genügt (BAG 16.12.2009 – 5 AZR 888/08 – juris Rn. 35). Eine Geltendmachung vor Fälligkeit wahrt eine tarifliche Ausschlussfrist jedenfalls dann, wenn der Anspruch schon entstanden ist (BAG a.a.O. Rn. 38; BAG 22.02.1978 – 5 AZR 805/76 – juris Rn. 16). Dies war hier der Fall. Durch den Vertrag vom 9.3.2015 war die Wiederherstellung der vollen Arbeitsfähigkeit zum 7.4.2015 nicht mehr erreichbar. Zwischen den Parteien ist die wirksame Geltendmachung im Rahmen der Ausschlussfrist auch nicht streitig.

Die Kosten des Rechtsstreits 1. Instanz haben die Parteien je zur Hälfte zu tragen (§ 92 ZPO), da die Klägerin erstinstanzlich Ansprüche in Höhe von fast 2.250 € zurückgenommen hatte. Die Berufungskosten sind hingegen ausschließlich vom beklagten Land zu tragen, da die Klägerin mit ihrer Berufung vollständig obsiegt hat.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 72 Abs. 2 ArbGG) liegen nicht vor. Insofern ist gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel nicht gegeben.

stats