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Arbeitsrecht
18.04.2024
Arbeitsrecht
LAG Nürnberg: LAG Nürnberg: Kündigung – Vollmachtsvorlage – Zurückweisung – Datenschutzverstoß – Betriebsratsmitglied – Nachrücken

LAG Nürnberg, Urteil vom 11.12.2023 – 1 Sa 164/23

Volltext: BB-Online BBL2024-947-2

Leitsätze

1. Die Bezeichnung als "kommissarische Personalleiterin", verbunden mit dem Zusatz "i.V." in einem Kündigungsschreiben, stellt kein das Zurückweisungsrecht nach § 174 S. 2 BGB ausreichendes In-Kenntnis-Setzen von der Kündigungsberechtigung dar.

2. Führt der Arbeitgeber das Verfahren zur Zustimmung zu einer Kündigung vor dem Inklusionsamt durch, weil der Arbeitnehmer längere Zeit vorher behauptet hatte, einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt zu haben, nimmt er das Risiko in Kauf, dass die Schwerbehinderteneigenschaft nicht besteht mit der Folge, dass die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht durch den rechtzeitigen Eingang des Antrags beim Inklusionsamt gewahrt ist. Im Übrigen ist nach einem Bescheid des Inklusionsamtes die Kündigung unverzüglich auszusprechen (§ 174 Abs. 5 SGB IX). Es läuft keine erneute Zwei-Wochen-Frist.

3. Klagt ein Ersatzmitglied des Betriebsrats gegen eine ihm gegenüber ausgesprochene außerordentliche Kündigung, rückt es bei Ausscheiden eines Betriebsratsmitglieds aus dem Betriebsrat in die Stellung eines ordentlichen Betriebsratsmitglieds ein, obwohl es im Hinblick auf die Kündigung gehindert ist, Betriebsratsaufgaben wahrzunehmen. Ihm kommt auch in diesem Fall der nachwirkende Kündigungsschutz nach § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG zugute mit der Folge, dass für ein Jahr nach Ablauf der Amtszeit ordentliche Kündigungen ausgeschlossen sind.

4. Aus diesem Grund ist auch ein vom Arbeitgeber gestellter Auflösungsantrag nicht zulässig.

5. Nennt der Arbeitnehmer im Verfahren vor dem Inklusionsamt – bei dem der Arbeitgeber die Zustimmung zur betriebsbedingten Kündigung mit der Begründung beantragt hat, die Aufgaben des betroffenen Arbeitnehmers sollten zum Teil fremdvergeben, zum Teil auf bestimmte andere Beschäftigte verlagert werden – im Hinblick auf die soziale Auswahl und auf die Unmöglichkeit der weiteren Belastung der anderen Beschäftigten deren Sozialdaten sowie deren Ausfallzeiten und deren Ausscheidenszeitpunkte, sind eventuelle Datenschutzverstöße vom berechtigten Interesse des Arbeitnehmers zur Verteidigung seiner Rechtsposition vor dem Inklusionsamt gedeckt und berechtigen weder zur außerordentlichen noch zur ordentlichen Kündigung.

BGB § 174 S. 2, § 626 Abs. 2

KSchG § 1 Abs. 2, § 13 Abs. 1 S. 3, Abs. 3, § 15 Abs. 1 S. 2

SGB XI § 174

 

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit mehrerer Kündigungen sowie um einen in der Berufungsinstanz von der Beklagten gestellten Auflösungsantrag.

Die Klägerin ist seit 01.09.2015 als Referentin Arbeitsrecht/Syndicusanwältin bei der Beklagten beschäftigt. Sie ist im Jahr 1976 geboren und hat zwei unterhaltsberechtigte Kinder. Das Bruttoentgelt betrug für die Beschäftigung mit 28 Stunden zuletzt 5.923,- € monatlich entsprechend der Entgeltgruppe EG 12 Stufe B mit 14% Leistungszulage nach den Tarifverträgen für die Bayerische Metallindustrie. Wegen der Einzelheiten des abgeschlossenen Arbeitsvertrages wird auf die von der Beklagten mit Schriftsatz vom 05.09.2020 vorgelegte Ablichtung Bezug genommen (Bl. 80 Rückseite ff. d.A.). Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer.

Die Beklagte hatte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 12.10.2020 außerordentlich mit sofortiger Wirkung gekündigt. Auf die von der Klägerin eingereichte, unter dem Aktenzeichen 2 Ca 5727/20 geführte Klage hin stellte das Arbeitsgericht Nürnberg fest, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst worden ist. Die hiergegen eingelegte Berufung der Beklagten, geführt beim Landesarbeitsgericht Nürnberg unter dem Aktenzeichen 4 Sa 86/22, wurde durch Urteil vom 14.12.2022 zurückgewiesen mit der Begründung, die behaupteten Vorwürfe rechtfertigten eine außerordentliche Kündigung mangels Ausspruch einer entsprechenden Abmahnung nicht. Das Urteil ist rechtskräftig.

Die Klägerin war in der Wahlperiode 2018 bis 2022 Ersatzmitglied des Betriebsrats. Sie vertrat das Betriebsratsmitglied Z. in der Sitzung vom 10.09.2020.

Die Beklagte hat mit der Begründung, die Klägerin habe behauptet, einen Antrag auf Feststellung der Eigenschaft als Schwerbehinderte gestellt zu haben, beim Zentrum Bayern Familie und Soziales mit Schreiben vom 11.03.2022 die Zustimmung zur betriebsbedingten Kündigung der Klägerin begehrt (Anlage K 15 zum Schriftsatz der Klägerinvertreter vom 24.11.2022, Bl. 190 ff. d.A.). In diesem Schreiben ist u.a. ausgeführt, dass in der Personalabteilung 22 Arbeitnehmer beschäftigt seien; diese werden namentlich unter Angabe ihrer Funktion genannt (ebenda, Bl. 206 f. d.A.). Die Klägerin nahm über ihre Rechtsanwälte Stellung mit Schreiben vom 04.04.2022 (Anlage K 16, ebenda, Bl. 218 ff. d.A.). Mit Bescheid vom 09.05.2022 hat das Zentrum Bayern Familie Soziales festgestellt, dass es der Zustimmung des Inklusionsamtes nicht bedürfe (Anlage zum Schriftsatz der Beklagtenvertreter vom 05.09.2022, Bl. 118 ff. d.A.).

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 17.05.2022 außerordentlich mit sozialer Auslauffrist in der Variante der Verdachtskündigung mit Wirkung zum 31.08.2022, mit Schreiben 18.05.2022 außerordentlich fristlos in der Variante der Verdachtskündigung, mit Schreiben vom 18.05.2022 ordentlich in der Variante der Verdachtskündigung zum 31.08.2022, mit Schreiben vom 18.05.2022 außerordentlich und fristlos in der Variante der Tatkündigung, mit weiterem Schreiben vom 18.05.2022 außerordentlich mit sozialer Auslauffrist in der Variante der Tatkündigung zum 31.08.2022 sowie durch weiteres Schreiben vom 18.05.2022 ordentlich in der Variante der Tatkündigung zum 31.08.2022 (Anlagen K 1 bis K 6 der Klageschrift, Bl. 9 bis 14 d.A.). Die Kündigungen sind jeweils unterzeichnet durch „Y., Vorstand“ und „i. V. X., Kommissarische Personalleitung“. Mit Schreiben vom 08.06.2022 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum  30.09.2022. Das Schreiben ist unterzeichnet von „Y., Vorstand“ und „ppa. W., Zentralbereichsleiter Finanzen“.

Die Klägerin hat erklärt, die Kündigungen seien ihr am 19.05.2022 zugestellt worden. Sie wies die Kündigungen mit gleichlautenden Schreiben vom 24.05.2022 unter Berufung auf § 174 S. 1 BGB mit der Begründung zurück, sie beanstande die von Frau X. und die von Herrn Y. behauptete Vertretungsmacht (Anlagen K 7 bis K 12 zur Klageschrift, Bl. 15 bis 20 d.A.). Die Beklagte bestätigte den Eingang dieser Schreiben am 25.05.2022 (Anlagenkonvolut K 13, ebenda, Bl. 21 ff. d.A.).

Mit ihrer am 07.06.2022 eingereichten Klage selben Datums, erweitert hinsichtlich der Kündigung vom 08.06.2022 mit Schriftsatz vom 27.06.2022, eingegangen am selben Tag, hat die Klägerin geltend gemacht, sämtliche Kündigungen seien unwirksam. Dies ergebe sich hinsichtlich der Kündigungen vom 17./18.05.2022 schon daraus, dass sie mangels Vollmachtvorlage wirksam zurückgewiesen seien. Laut Handelsregister werde die Gesellschaft, soweit nicht nur ein Vorstandsmitglied bestellt sei, durch zwei Vorstandsmitglieder oder durch ein Vorstandsmitglied gemeinsam mit einem Prokuristen vertreten. Bei der Beklagten seien zwei Vorstandsmitglieder eingetragen. Die mitunterzeichnende Angestellte X. habe keine Prokura; sie habe in Vertretung unterzeichnet und keine Vollmachtsurkunde beigefügt. Es werde bestritten, dass der bei der Beklagten bestehende Betriebsrat ordnungsgemäß zur Kündigung angehört worden sei. Die ordentlichen Kündigungen seien schon deswegen unwirksam, weil sie – die Klägerin – mit dem Ausscheiden der Betriebsratsmitglieder V. und Z. ordentliches Betriebsratsmitglied geworden sei und daher nachwirkenden Kündigungsschutz genieße. Kündigungsgründe sowie die Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB würden bestritten. Dasselbe gelte hinsichtlich der Kündigung vom 08.06.2022. Insoweit werde auch die fehlerhafte Durchführung der sozialen Auswahl gerügt.

Die Klägerin hat nach Rücknahme der mit der Klage und mit der Klageerweiterung gestellten Anträge auf Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses erstinstanzlich zuletzt beantragt,

1.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 18.05.2022 (außerordentliche und fristlose Verdachtskündigung), zugestellt am 19.05.2022, nicht aufgelöst worden ist.

2.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 17.05.2022 (außerordentliche Verdachtskündigung mit sozialer Auslauffrist), zugestellt am 19.05.2022, nicht zum 31.08.2022 aufgelöst werden wird.

3.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 18.05.2022 (außerordentliche und fristlose Tatkündigung), zugestellt am 19.05.2022, nicht aufgelöst worden ist.

4.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 18.05.2022 (außerordentliche Tatkündigung mit sozialer Auslauffrist), zugestellt am 19.05.2022, nicht zum 31.08.2022 aufgelöst werden wird.

5.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die ordentliche Kündigung vom 18.05.2022 (ordentliche Tatkündigung), zugestellt am 19.05.2022, nicht zum 31.08.2022 aufgelöst werden wird.

6.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die ordentliche Kündigung vom 18.05.2022 (ordentliche Verdachtskündigung), zugestellt am 19.05.2022, nicht zum 31.08.2022 aufgelöst werden wird.

7.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 08.06.2022, nicht zum 30.09.2022 aufgelöst wird.

Hilfsweise für den Fall, dass die Feststellungsanträge zu Ziffer 1 bis 7 abgewiesen werden:

8. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ein endgültiges Zeugnis zu erteilen, das sich auf Leistung und Verhalten erstreckt.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält die ausgesprochenen Kündigungen für wirksam. Sie meint, die Klägerin habe in ihrer Stellungnahme an das Inklusionsamt vom 04.04.2022 missbräuchlich Mitarbeiterdaten verwendet. Sie habe die persönlichen Daten des Personalleiters U. – einschließlich des Umstands seiner Erkrankung –, der Personalreferentin T., der Personalreferentin S., des Personalreferenten R. einschließlich des Datums seiner Eigenkündigung, der Personalreferentin Q., des Personalleiters P. einschließlich des Umstands, dass dieser betriebsbedingt gekündigt worden sei, sowie des Personalreferenten O. und der stellvertretenden Personalleiterin X. an die Öffentlichkeit gebracht. Es sei unklar, wie sie an diese Daten gelangt sei. Entweder eine Person aus dem Unternehmen habe auf die Daten zugegriffen und diese an die Klägerin weitergegeben oder die genannten Mitarbeiter hätten sich der Klägerin im Rahmen ihrer Tätigkeit als Rechtsanwältin anvertraut. Beides habe strafrechtliche Relevanz und stelle einen massiven Vertrauensmissbrauch dar. Die Mitarbeiter hätten ihre Einwilligung zur Verwendung der Daten im Verfahren vor dem Inklusionsamt nie erteilt. Aus diesem Grund seien die Kündigungen schon als Tatkündigungen berechtigt.

Zumindest wirkten sie als Verdachtskündigungen. Ihre – der Beklagten – Vertreter hätten am 11.04.2022 von der Stellungnahme der Klägerin vom 04.04.2022 Kenntnis erlangt. Sie hätten die Klägerin mit Schreiben vom 14.04.2022 schriftlich zu den Vorwürfen angehört und sie zur Stellungnahme bis 22.04.2022 aufgefordert (Anlage zum Schriftsatz der Beklagtenvertreter vom 05.09.2022, Bl. 71 ff. d.A.). Die Klägerin habe sich dahingehend verteidigt, sie habe von den persönlichen Daten im Rahmen privater Gespräche erfahren (Schriftsatz vom 22.04.2022, ebenda, Bl. 74 ff. d.A.). Mit ihrer Einlassung habe die Klägerin die Vorwürfe nicht zu entkräften vermocht. Es handle sich um reine Schutzbehauptungen. Bei der Einstellung der Personalreferentin Q. sei die Klägerin bereits zwei Wochen arbeitsunfähig abwesend gewesen. Den Personalreferenten R. habe die Klägerin aktiv telefonisch kontaktiert und auf seine Eigenkündigung angesprochen. Die stellvertretende Personalleiterin X. habe die Klägerin nie kennengelernt.

Die Beklagte führt aus, sie habe den Betriebsrat mit Schreiben vom 03.05.2022 zur außerordentlichen fristlosen Verdachtskündigung angehört und dabei auch über den Sonderkündigungsschutz unterrichtet (Anlagen ebenda, Bl. 76 ff. d.A.), zur außerordentlichen Verdachtskündigung mit sozialer Auslauffrist mit Schreiben vom 03.05.2022, mit Schreiben vom 03.05.2022 zu den beabsichtigten ordentlichen Kündigungen (Anlagen ebenda, Bl. 131 ff. d.A.), zur außerordentlichen fristlosen Tatkündigung mit Schreiben vom 26.04.2022 (Anlagen ebenda, Bl. 86 ff. d.A.).

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Verwendung der persönlichen Daten in der Stellungnahme gegenüber dem Zentrum Bayern sei vollumfänglich zulässig gewesen. Die Beklagte selbst habe zur Begründung ihres Antrags die Namen derjenigen Mitarbeiter eingebracht, die ihre – der Klägerin – Aufgaben übernehmen sollten. In diesem Fall liege die Reaktion in ihrem – der Klägerin – berechtigten Interesse. Dies gelte umso mehr, als sie – die Klägerin – für die Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl darlegungs- und beweispflichtig sei. An sich wäre die Beklagte verpflichtet gewesen, die entsprechenden Sozialdaten ins Verfahren einzuführen. Es könne ihr, der Klägerin, nicht zum Nachteil gereichen, dass die Beklagte diese Daten nicht selbst eingeführt habe. Zur betriebsbedingten Kündigung vom 08.06.2022 habe die Beklagte weder Sachvortrag geleistet noch den Betriebsrat hierzu ordnungsgemäß angehört. Die Beklagte habe dem Betriebsrat nicht berichtet, dass sie, die Klägerin, erst 2017 zur Syndikusanwältin ernannt worden sei, dass sie vorher als Personalreferentin tätig gewesen sei. Sie habe auch nicht über den Sonderkündigungsschutz als ordentliches Betriebsratsmitglied nach Ausscheiden der Betriebsräte V. und Z. unterrichtet. Zum Teil fehlten die Anhörungen völlig. Die Beklagte habe schließlich nicht erwähnt, dass sie selbst die Namen der betroffenen Mitarbeiter in ihrem Antrag an das Zentrum Bayern eingebracht habe. Dies sei ein wesentlicher entlastender Umstand. Sie bestreite mit Nichtwissen, dass der Beklagten der Sachverhalt erst am 11.04.2022 bekannt geworden sei. Selbst wenn man davon ausgehen könne, sei die Zwei-Wochen-Frist nicht gewahrt. Die Beklagte habe den Antrag beim Inklusionsamt erst am 25.04.2022 gestellt, das Inklusionsamt habe seine Entscheidung bereits am 09.05.2022 mitgeteilt. Die am 19.05.2022 zugestellten Kündigungen seien nicht unverzüglich ausgesprochen.

Die Beklagte hat eingewandt, die Zurückweisung der Kündigungen gehe ins Leere. Der Klägerin seien die Personen und ihre Vertretungsbefugnisse bestens bekannt gewesen. Es sei falsch, dass die Klägerin nur bekannte Daten aufgegriffen habe; vielmehr habe sie sensible Daten der betroffenen Arbeitnehmer zusätzlich aufgeführt. Sie habe sich rechtswidrig Zugang zu diesen Daten verschafft. Selbst diejenigen Daten, die sie rechtmäßig erlangt habe, hätte sie nicht offenbaren dürfen. Die Angabe der Daten sei auch nicht erforderlich gewesen, weil die benannten Arbeitnehmer nicht mit der Klägerin vergleichbar gewesen seien. Die Klägerin sei die einzige im HR-Bereich tätige Syndikusanwältin gewesen. Die zweite Syndikusanwältin N. sei in Teilzeit und für den Bereich des Patentrechts zuständig, habe mit der HR-Abteilung nichts zu tun. Sie, die Beklagte, habe den Betriebsrat zur betriebsbedingten Kündigung mit Schreiben vom 21.04.2022 angehört (vorgelegt wird das Schreiben vom 31.05.2022 nebst Anlagen, Anlage zum Schriftsatz der Beklagtenvertreter vom 09.05.2023, Bl. 360 ff. d.A.). Danach werde deutlich, dass die betriebsbedingte Kündigung berechtigt sei. Die Aufgaben der Klägerin sollten zum Teil fremdvergeben und zum Teil von anderen Mitarbeitern übernommen werden. Wegen der Einzelheiten hierfür wird auf die Darlegung der Beklagten im Schriftsatz vom 09.05.2023 Bezug genommen (Bl. 321 ff. d.A.).

Das Arbeitsgericht Nürnberg hat mit Endurteil vom 17.05.2023 wie folgt entschieden:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 18.05.2022 (außerordentliche und fristlose Verdachtskündigung), zugestellt am 19.05.2022, nicht aufgelöst worden ist.

2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 17.05.2022 (außerordentliche Verdachtskündigung mit sozialer Auslauffrist), zugestellt am 19.05.2022, nicht zum 31.08.2022 aufgelöst worden ist.

3. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 18.05.2022 (außerordentliche und fristlose Tatkündigung), zugestellt am 19.05.2022, nicht aufgelöst worden ist.

4. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 18.05.2022 (außerordentliche Tatkündigung mit sozialer Auslauffrist), zugestellt am 19.05.2022, nicht zum 31.08.2022 aufgelöst worden ist.

5. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die ordentliche Kündigung vom 18.05.2022 (ordentliche Tatkündigung), zugestellt am 19.05.2022, nicht zum 31.08.2022 aufgelöst worden ist.

6. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die ordentliche Kündigung vom 18.05.2022 (ordentliche Verdachtskündigung), zugestellt am 19.05.2022, nicht zum 31.08.2022 aufgelöst worden ist.

7. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 08.06.2022, nicht zum 30.09.2022 aufgelöst worden ist.

8. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

9. Der Streitwert wird auf 23.692 € festgesetzt.

10. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.

Das Arbeitsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, die Kündigungen vom 17.05. und 18.05.2022 seien schon deswegen unwirksam, weil die Klägerin diese wirksam wegen Fehlens einer Vollmachtsurkunde zurückgewiesen habe. Die Beklagte werde nach dem Handelsregister durch zwei Vorstandsmitglieder oder ein Vorstandsmitglied und einen Prokuristen vertreten. Letzteres sei bei der Angestellten X. nicht der Fall. Die Klägerin habe die Schreiben rechtzeitig zurückgewiesen; zwischen dem Erhalt der Kündigungen am 19.05. und dem Eingang des Zurückweisungsschreibens am 25.09.2022 liege nicht einmal eine Woche. Das Zurückweisungsrecht sei nicht nach § 174 S. 2 BGB dadurch ausgeschlossen, dass die Beklagte die Bevollmächtigung der Angestellten X. vorher mitgeteilt habe. Die Beklagte habe nicht im Einzelnen vorgetragen, wann die Klägerin über die behauptete Befugnis der Angestellten X. in Kenntnis gesetzt worden sei. Die Stellung einer Personalleiterin sei der Angestellten X. gerade nicht übertragen gewesen. Die Kündigung vom 08.06.2022 sei unwirksam. Die Beklagte habe hierzu keinen ausreichenden Vortrag geleistet. Es sei nicht erkennbar, auf welche Betriebsratsanhörung die Beklagte ihre Gründe stütze.

Das Endurteil des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 17.05.2023 ist den Prozessvertretern der Beklagten ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 22.05.2023 zugestellt worden.

Diese haben namens und im Auftrag der Beklagten mit Schriftsatz vom 15.06.2023, beim Landesarbeitsgericht eingegangen am selben Tag, Berufung gegen die Entscheidung eingelegt und sie mit am 14.07.2023 eingegangenem Schriftsatz selben Datums begründet.

Die Beklagte hat ihre Berufung damit begründet, das Arbeitsgericht habe ohne erforderliche Hinweise unterstellt, der Klägerin sei die Stellung der Angestellten X. nicht ausreichend bekannt gewesen. Der Klägerin sei bekannt gewesen, dass diese stellvertretende Personalleiterin gewesen sei. Die Klägerin selbst habe die Angestellte X. als Nachfolgerin von Frau M. bezeichnet. Im Übrigen habe die Angestellte X. ihre Befugnis durch den Zusatz „kommissarische Personalleiterin“ in den Kündigungsschreiben deutlich gemacht. Frau X. habe den Mitarbeitern, auch der Klägerin, sämtliche Personalabrechnungen übersandt; sie habe sämtliche Personalgespräche geführt. Kündigungsgrund für die Kündigung vom 08.06.2022 sei gewesen, dass nach der Krankheit der Klägerin festgestellt worden sei, dass diese auf ihrem Arbeitsplatz Chaos hinterlassen habe. Danach sei geprüft worden, wie die die Aufgaben der Klägerin fremdvergeben bzw. umverteilt werden könnten. Letztlich habe der Vorstand am 21.02.2022 ein entsprechendes Konzept beschlossen. Der Auflösungsantrag sei begründet. Die andauernden Pflichtverletzungen der Klägerin ließen eine gedeihliche Zusammenarbeit nicht mehr zu. Sie, die Beklagte, habe der Klägerin mit Schreiben vom 26.05.2023 die Weiterbeschäftigung angeboten, wobei die Klägerin zwei Tage in der Woche in Remscheid habe tätig sein sollen. An- und Abreise sollten als Arbeitszeit gewertet werden. Die Klägerin habe demgegenüber geltend gemacht, das Angebot sei rechtswidrig. Sie sei darauf hingewiesen worden, dass dies nicht stimme und die mit dem Betriebsrat vereinbarte Dienstreiseordnung dies hergebe. Am nächsten Tag, den 31.05.2023, sei die Klägerin wieder im Betrieb erschienen und habe nach dem Betriebsratsvorsitzenden verlangt. Sie habe von ihm die Herausgabe der Dienstreiseordnung verlangt und erklärt, diese müsse sie im Auftrag von Frau L. erhalten. Letztlich habe Frau X. die Dienstreiseordnung übergeben. Frau L. habe der Klägerin erklärt, dass es ihr nicht zustehe, beim Betriebsrat in ihrem Namen nach Dokumenten zu fragen. Die Klägerin habe Frau L. daraufhin als Lügnerin und als unzuverlässige Person beschimpft. Einen weiteren vereinbarten Termin am 09.06.2023 habe die Klägerin nicht wahrgenommen. All dies lasse nicht erwarten, dass die Klägerin noch vertrauensvoll mit ihr, der Beklagten, zusammenarbeiten werde.

Die Beklagte und Berufungsklägerin stellt im Berufungsverfahren folgenden Antrag:

I. Das Endurteil des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 17.05.2023 mit dem Aktenzeichen 13 Ca 2221/22 wird aufgehoben.

II. Die Klage wird abgewiesen.

III. Für den Fall der Sozialwidrigkeit der ordentlichen und außerordentlichen und fristlosen Kündigungen vom 17.05.2022 und 18.05.2022 und der ordentlichen betriebsbedingten Kündigung vom 08.06.2022 wird das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, aber 8.000,00 € nicht überschreiten sollte, aufgelöst.

IV. Die Klägerin trägt die Kosten beider Rechtszüge.

Die Klägerin und Berufungsbeklagte beantragt,

1.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 17.05.2023,mit dem Aktenzeichen: 13 Ca 2221/22 wird zurückzuweisen.

2.

Der Auflösungsantrag der Beklagten wird zurückgewiesen.

3.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits beider Rechtszüge zu tragen.

23

Die Klägerin schließt sich der Begründung des Arbeitsgerichts an. Ein Verstoß gegen die Hinweispflicht habe nicht vorgelegen. Nach wie vor habe die Beklagte nicht vorgetragen, aufgrund welcher Tatsachen sie, die Klägerin, von der Bevollmächtigung der stellvertretenden Personalleiterin X. Kenntnis erlangt haben solle. Bestellt worden seien die Personalleiter P. und U.. Das Organigramm sei ihr, der Klägerin, erst mit der Berufungsbegründung zur Kenntnis gebracht worden. Die kommissarische Bevollmächtigung mit der Personalleitung ergebe sich aus diesem Organigramm nicht. Frau M., die der Klägerin die Angestellte X. als Nachfolgerin benannt habe, sei als „Head of Payroll“ nie stellvertretende oder kommissarische Personalleiterin gewesen. Aus ihrem – der Klägerin – Sachvortrag ergebe sich die Kenntnis von einer solchen Stellung also gerade nicht. Die Übersendung von Lohnabrechnungen besage nichts. Sie bestreite, dass es am 20.02. oder 21.02.2022 zu einer Unternehmerentscheidung gekommen sei, die den Wegfall des Arbeitsplatzes beinhalte. Die Beklagte beziehe sich auf eine Anhörung des Betriebsrats vom 31.05.2022, schreibe aber darin, dass die Kündigung noch im April ausgesprochen werden solle. Die Klägerin bestreitet, dass der Zeitaufwand für die von ihr ausgeübten Tätigkeiten zutreffend wiedergegeben sei. Sie bestreitet des Weiteren, dass die von der Beklagten aufgeführten Tätigkeiten tatsächlich an eine Rechtsanwaltskanzlei übertragen worden seien. Die Ausführungen, welche verbleibenden Tätigkeiten auf welche Mitarbeiter übertragen werden sollten, seien nicht substantiiert. Im Übrigen berücksichtige die Beklagte nicht, dass im damaligen Zeitpunkt der Personalleiter U. längere Zeit erkrankt gewesen sei. Es komme hinzu, dass der Personalreferent R. ausgeschieden sei. Zudem habe die Beklagte dem Betriebsrat die Umstände fehlerhaft geschildert. Der Auflösungsantrag sei unbegründet. Die Beklagte habe ihr nicht die Weiterbeschäftigung, sondern lediglich ein Prozessarbeitsverhältnis angeboten. Die Beklagte hätte sie, die Klägerin, zudem auch in C-Stadt beschäftigen können; mindestens seit 11.05.2023 habe sie eine Stelle für „Legal Counsel (m/w/d)“ ausgeschrieben. Sie habe den Betriebsrat K. lediglich um Herausgabe der Betriebsvereinbarung zu Dienstreisen gebeten und erklärt, Frau L. habe sie diesbezüglich an den Betriebsrat verwiesen. Es treffe nicht zu, dass sie eine Anweisung von Frau L. zur Aushändigung der Betriebsvereinbarung behauptet habe. Es sei falsch, dass sie diese als Lügnerin bezeichnet habe.

24

Die Beklagte hat eingewandt, dass sich die Befugnis der Angestellten X. aus dem Zusatz „kommissarische Personalleiterin“ ergebe.

25

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des arbeitsgerichtlichen Urteils, auf die von den Parteien eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 10.10.2023 (Bl. 632 f. d.A.) Bezug genommen.

Aus den Gründen

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht beim Landesarbeitsgericht eingereichte und auch begründete Berufung ist in der Sache nicht begründet. Auch der gestellte Auflösungsantrag erweist sich als unbegründet, so dass die Berufung insgesamt zurückzuweisen war. Die Berufungskammer folgt dem Arbeitsgericht, soweit dieses erkannt hat, dass die Kündigungen vom 17.05. und 18.05.2022 wegen fehlender Vollmachtvorlage keine Wirkungen entfalten konnten, und schließt sich insoweit den sorgfältigen und zutreffenden Entscheidungsgründen an. Zu den in der Berufung vorgetragenen Argumenten und Tatsachen, auch soweit sie die Begründung der ordentlichen Kündigung vom 08.06.2022 und den Auflösungsantrag betreffen, ist auf folgendes hinzuweisen:

 

1. Die Klägerin hat die Kündigungen vom 17.05. bzw. 18.05.2022 mit der Folge von deren Unwirksamkeit wirksam zurückgewiesen.

a. Die Zurückweisung ist rechtzeitig erfolgt. Hierfür gelten die zu § 121 BGB aufgestellten Grundsätze. Die Zurückweisung muss daher nicht sofort erfolgen. Dem Erklärungsempfänger ist vielmehr eine gewisse Zeit zur Überlegung einzuräumen. Diese ist vorliegend nicht überschritten. Die Überlegungsfrist von bis zu einer Woche (vgl. hierzu BAG v. 20.05.2021, 2 AZR 596/20; BAG v. 08.12.2011, 6 AZR 354/10, Rn. 32, jeweils zitiert nach juris) ist der Klägerin einzuräumen, auch wenn sie als Syndikusanwältin Erfahrung hat. Schließlich durfte sie prüfen, ob die Unterzeichnung durch ein Vorstandsmitglied ausreichend war. Auch die Beklagte hat hierzu weitere Einwendungen nicht erhoben.

 

b. Entgegen der Ansicht der Beklagten kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Klägerin die Bevollmächtigung der Angestellten X. bekannt war.

(1) Die Beklagte hat eine konkrete In-Kenntnis-Setzung der Klägerin von der Bevollmächtigung der Angestellten X. durch Bekanntmachung oder ausdrücklichen Hinweis nicht behauptet.

 

(2) Soweit sich die Beklagte darauf stützt, der Klägerin sei die Bevollmächtigung dadurch bekannt gewesen, dass sie selbst behauptet hat, die Angestellte J. habe die Angestellte X. ihr gegenüber als ihre Nachfolgerin benannt, genügt dies nicht. Die Klägerin hat erklärt, die Angestellte J. sei Leiterin der Abrechnungsabteilung gewesen. Die Beklagte hat selbst nicht behauptet, dass diese Leiterin zum Ausspruch von Kündigungen berechtigt gewesen sei. Insoweit hilft der Hinweis auf die Nachfolge nicht weiter.

 

(3) Aus demselben Grund ist es für die Kündigungsberechtigung unerheblich, dass die Angestellte X. die Abrechnungen unterzeichnet und Personalgespräche geführt hat. Es ist gerade nicht Praxis, sondern wäre eher ungewöhnlich, dass der Leiter der Lohnbuchhaltung als solches ohne Weiteres auch berechtigt ist, Kündigungen auszusprechen. Demzufolge besagt auch die Unterzeichnung der Lohnabrechnungen nichts. Das Führen von Personalgesprächen kann auch auf Mitarbeiter delegiert sein – unabhängig davon hat die Beklagte nicht vorgetragen, woher der Klägerin dieses Führen bekannt gewesen sein soll.

 

(4) Aus dem von der Beklagten vorgelegten Organigramm (S. 25 der Berufungsbegründung, Bl. 487 d.A.) lässt sich nicht erkennen, dass die Angestellte X. als Personalleiterin eingetragen wäre. Dort ist diese als „Payroll/Digital“ und „Head of Payroll, HR, Digital & Controlling“ eingetragen. Es ergibt sich hieraus gerade nicht, dass die Angestellte X. als „Head of HR“ bestimmt wäre. Die Klägerin wendet zu Recht ein, dass die Bezeichnung „HR“ im Organigramm auch bei anderen Mitarbeitern aufgeführt ist, bei denen auch die Beklagte keine Befugnis zum Ausspruch von Kündigungen behauptet. Zumindest ist dem Organigramm eine solche Befugnis damit nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit zu entnehmen.

 

(5) Soweit die Beklagte meint, die Befugnis ergebe sich aus der Unterschriftszeile der Kündigungen, trifft auch dies nicht zu. Zwar genügt es, wenn der Kündigungserklärende eine Position innehat, mit der üblicherweise das Kündigungsrecht verbunden ist. Dies ist bei der Bestellung zum Prokuristen, zum Generalbevollmächtigten oder auch zum Personalleiter der Fall. Dabei reicht die interne Übertragung einer solchen Position nicht aus. Erforderlich ist, dass sie auch nach außen im Betrieb ersichtlich ist (BAG v. 05.12.2019, 2 AZR 147/19, Rn. 52, zitiert nach juris; Treber/Rennpferdt in KR, Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsrecht, 13. Aufl. 2022, § 13 KSchG Rn. 130). Dafür, dass die Angestellte X. eine Stellung innegehabt hätte, aus der auch ohne Bekanntmachung im Betrieb für die Beschäftigten eine Kündigungsbefugnis ersichtlich wäre, hat die Beklagte keine konkreten Tatsachen vorgetragen.

 

(6) Allein der Umstand, dass sich die Angestellte in den Kündigungsschreiben selbst als „kommissarische Personalleiterin“ bezeichnet hat, lässt sich nichts ableiten. Es genügt nicht, dass der Unterzeichner eines Kündigungsschreibens selbst seine Berechtigung behauptet, ohne eine Urkunde vorzulegen. Gerade in solchen Fällen ermöglicht das Gesetz dem Kündigungsempfänger, sich durch Zurückweisung über die Berechtigung Klarheit zu verschaffen. Nach alldem kann dahinstehen, ob sich aus der vor der Unterschrift aufgeführten Abkürzung „i.V.“ weitere Bedenken an der Kündigungsberechtigung ableiten lassen. Zumindest ist daraus ersichtlich, dass die „normale“ Position der Angestellten X. offenbar nicht ohne Weiteres mit dem eigenen Recht zum Ausspruch von Kündigungen verbunden war.

 

c. Nach alldem sind die Kündigungen vom 17.05. und 18.05.2022 schon wegen der fehlenden Vorlage der Vollmacht unwirksam.

 

2. Die Kündigungen vom 17.05. und vom 18.05.2022 scheitern jedoch auch am Vorliegen eines Kündigungsgrundes.

 

a. Die Beklagte wirft der Klägerin vor, Personaldaten von Mitarbeitern, die sie unrechtmäßig erlangt habe, in ihrer Stellungnahme an das Zentrum Bayern eingebracht und damit Persönlichkeitsrechtsverletzungen, Datenschutzverstöße und Vertrauensbrüche begangen zu haben.

 

b. Es kann dahinstehen, auf welchem Weg die Klägerin die persönlichen Daten der Mitarbeiter erlangt hat. Selbst wenn diese aus der Personalabteilung zugespielt worden wären, wie die Beklagte behauptet, läge ein erheblicher Verstoß nicht vor. Unabhängig davon hat die für das Vorliegen eines Kündigungsgrundes darlegungs- und beweispflichtige Beklagte den Einwand der Klägerin, sie habe die Daten privat erfahren, nicht zu widerlegen vermocht.

 

c. Entscheidend ist, ob der Klägerin mit Kündigungsrelevanz vorgeworfen werden kann, dass sie die Daten im Verfahren vor dem Inklusionsamt benannt hat. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Klägerin hat insoweit in Wahrung berechtigter Interessen gehandelt. Die Beklagte hatte die betreffenden Mitarbeiter aufgeführt und erklärt, dass diese teilweise die Aufgaben der Klägerin übernehmen würden. Sie hat andererseits erklärt, eine soziale Auswahl sei nicht zu treffen. Dagegen durfte die Klägerin in Wahrung ihrer Rechtsposition dagegenhalten, dass eine anderweitige Beschäftigung möglich wäre, dass sie von Vergleichbarkeit ausgehe und dass eine soziale Auswahl zu ihren Gunsten ausgehen würde. Die von der Klägerin aufgeführten Wochenstunden der Mitarbeiter sind unmittelbar relevant dafür, ob diese Mitarbeiter – wie von der Beklagten behauptet – Aufgaben der Klägerin übernehmen könnten. Auch das Vorbringen, dass dem Personalleiter P. gekündigt worden sei und dass der Personalreferent R. selbst gekündigt habe, ist unmittelbar relevant für die Schlüssigkeit des Beklagtenvorbringens gegenüber dem Inklusionsamt. Wenn dies nämlich richtig ist, ist besonders erklärungsbedürftig, aus welchem Grund die vorhandenen Mitarbeiter noch Kapazitäten für die Übernahme von Tätigkeiten, die bisher die Klägerin ausgeführt hat, übrighaben sollten. Soweit die Klägerin aufgeführt hat, die Personalreferentinnen S. und Q. sowie der Personalreferent R. seien ledig, kinderlos und wiesen eine geringere Betriebszugehörigkeit auf, ist diese Behauptung unmittelbar relevant für eine nach Auffassung der Klägerin durchzuführende Sozialauswahl. Alle diese Ausführungen erfolgten nicht in der Öffentlichkeit, sondern im nichtöffentlichen Verfahren vor dem Inklusionsamt. Sie erfolgten im berechtigten Interesse der Klägerin, das Inklusionsamt von einer möglicherweise benötigten Zustimmung zur Kündigung abzuhalten. Die Kammer kann hierin keinen Verstoß der Klägerin gegen ihre Verpflichtungen erkennen. Wenn ein solcher vorliegen sollte, wäre er jedenfalls geringfügig und ohne Abmahnung weder für eine außerordentliche Kündigung mit sofortiger Wirkung noch für eine außerordentliche mit Auslauffrist noch für eine ordentliche Kündigung geeignet, sei es als Tat- oder Verdachtskündigung.

 

3. Die außerordentlichen Kündigungen scheitern auch an der Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB.

 

a. Die Beklagte hatte nach eigener Auskunft am 11.04.2022 Kenntnis vom Schreiben der klägerischen Anwälte vom 04.04.2022. Wäre dies der maßgebliche Zeitpunkt, wäre die Frist am 19.05., dem Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungen bei der Klägerin, verstrichen gewesen.

 

b. Wenn man der Beklagten zubilligt, weitere Aufklärungsmaßnahmen zu ergreifen und insbesondere die Klägerin anzuhören, war dies mit Schreiben der klägerischen Anwälte vom 22.04.2022 abgeschlossen. Am 19.05.2022 zugegangene Kündigungen erweisen sich auch – stellt man auf diesen Zeitpunkt ab – als verfristet.

 

c. Die Beklagte trägt selbst vor, die Klägerin habe keinen Ausweis für eine behauptete Schwerbehinderung vorgelegt. Es ist nicht nachvollziehbar, warum sie in diesem Fall nicht unverzüglich gekündigt, sondern das Verfahren vor dem Inklusionsamt eingeleitet hat. Selbst wenn es zutrifft, dass sich die Klägerin hierauf wegen vorangegangener Behauptung des Vorliegens der Eigenschaft als Schwerbehinderte – wobei die Erklärung, sie habe einen Antrag auf Anerkennung gestellt, nicht genügen würde – nach dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht berufen dürfte, ist der Ausspruch am 19.05.2022 dennoch verfristet. Die Beklagte hätte nach Zugang des Bescheids des Inklusionsamtes vom 09.05.2022 die Kündigungen unverzüglich aussprechen müssen. Dies hat die Klägerin ausdrücklich gerügt, ohne dass die Beklagte erklärt hätte, wann ihr der Bescheid zugegangen ist. Unabhängig davon gilt bei einem Antrag auf Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung die Zustimmung nach Ablauf von zwei Wochen als erteilt (§ 174 Abs. 3 SGB IX). Selbst wenn die Beklagte den Negativbescheid erst später erhalten hätte – nach Ablauf der zweiwöchigen Frist mit Ablauf des 09.05. hätte sie unverzüglich kündigen müssen (§ 174 Abs. 5 SGB IX). Dies ist mit dem Kündigungszugang am 19.05.2022 in keiner Weise erfolgt. Die außerordentlichen Kündigungen scheitern daher auch aus diesem Grund.

 

4. Zum Ausspruch von ordentlichen Kündigungen war die Beklagte nach § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG nicht berechtigt.

 

a. Die Klägerin hat vorgetragen, nach Ausscheiden der Betriebsratsmitglieder V. und Z. in den Betriebsrat nachgerückt zu sein. Die Beklagte hat sich hierzu nicht geäußert. War dies der Fall, war eine ordentliche Kündigung nach Ablauf der Amtszeit des Betriebsrats – nach Angaben der Klägerin im Jahr 2022 – bis Anfang 2023 ausgeschlossen.

 

b. An diesem Nachrücken ändert sich auch nichts deswegen, weil die Klägerin im damaligen Zeitpunkt – seit 12.10.2020 – bereits gekündigt war und deshalb tatsächlich keine Betriebsratstätigkeit ausüben konnte. Aufgrund der Kündigung war sie zwar gehindert, ihre Betriebsratsarbeit wahrzunehmen. An ihrer rechtlichen Stellung als nachgerücktes Betriebsratsmitglied ändert dies jedoch nichts. Zwar ist für das Erlangen des Schutzes nach § 15 Abs. 1 KSchG erforderlich, dass ein vorübergehend nachgerücktes Ersatzmitglied Aktivitäten entfaltet bzw. nicht selbst dauerhaft verhindert ist. Ein solcher Fall liegt jedoch nicht vor. Vielmehr ist nach dem unbestrittenen Sachvortrag der Klägerin davon auszugehen, dass sie endgültig in den Betriebsrat nachgerückt und ordentliches Mitglied geworden ist. An der Ausübung ihres Amtes war sie gehindert, weil über die ausgesprochene außerordentliche Kündigung vom 12.10.2020 bis zum Ablauf der Amtszeit nicht entschieden war. Daran ändert aber nichts, dass sie ordentliches Mitglied geworden ist. Sie kann sich daher auf die Rechtsstellung des ordentlichen Mitglieds berufen – es gilt nichts anderes, als wenn ein von vornherein in den Betriebsrat gewähltes Mitglied etwa wegen Arbeitsunfähigkeit oder Elternzeit keine Aktivitäten entfalten kann. Auch dann hat der Arbeitgeber dessen Rechtsstellung als Betriebsratsmitglied nach § 15 Abs. 1 S. 1 und § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG zu beachten.

 

c. Demzufolge sind die Kündigungen vom 18.05.2022 auch als ordentliche Kündigungen unwirksam.

 

5. Auch die Kündigung der Beklagten vom 08.06.2022 erweist sich als unwirksam.

 

a. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Klägerin auch zu diesem Zeitpunkt nicht ordentlich kündbar war (vgl. Ziff. 4).

 

b. Die ordentliche Kündigung ist aber auch nicht sozial gerechtfertigt (§ 1 Abs. 2 KSchG). Es kann dahinstehen, ob die Beklagte nunmehr in ausreichender Weise dargestellt hat, dass und in welchem Umfang Teile der Arbeit der Klägerin fremdvergeben wurden. Jedenfalls die Verteilung der verbliebenen Tätigkeiten auf die anderen Mitarbeiter ist nicht ausreichend substantiiert vorgetragen. Zudem hätte die Beklagte auf die Rügen der Klägerin, es seien mehrere Beschäftigte ausgeschieden, im Einzelnen eingehen müssen. Es versteht sich von selbst, dass die Zusatzbelastung anderer Mitarbeiter jedenfalls dann schwieriger wird, wenn im gleichen Zeitraum weitere Mitarbeiter nicht mehr zur Verfügung stehen.

 

c. Letztlich scheitert die betriebsbedingte Kündigung auch am Vorrang der Änderungskündigung. Nach diesem Grundsatz ist eine Kündigung aus betrieblichen Gründen nur dann „bedingt“ im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG, wenn sie die letzte Möglichkeit ist, wenn keine milderen Mittel zur Verfügung stehen. Vorliegend hat die Beklagte nicht erklärt, aus welchem Grund die teilweise Beschäftigung in Remscheid nicht schon im Juni 2022 möglich gewesen wäre. Unabhängig davon steht jedenfalls fest, dass der Personalreferent R. mit Wirkung zum 30.06.2022 aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden ist, und zwar durch Eigenkündigung. Auch die Klägerin war ab 2015 zunächst als Personalreferentin tätig, war also in der Lage, die Tätigkeiten des Mitarbeiters R. wahrzunehmen. Die Beklagte hat keinerlei Erklärung dafür abgegeben, warum der Klägerin der Arbeitsplatz dieses Kollegen nicht im Wege der Änderungskündigung angeboten worden ist.

 

d. Nach alldem kommt es auf die Frage, ob und inwieweit der Betriebsrat zu dieser Kündigung ordnungsgemäß angehört worden ist, nicht an. In der Tat erweist sich der diesbezügliche Sachvortrag der Beklagten mit Blick auf die hierfür vorgelegten Unterlagen als widersprüchlich. Weitere Feststellungen hierzu sind angesichts dessen, dass die Kündigung ohnehin nicht wirksam ist, nicht mehr zu treffen.

 

6. Der Auflösungsantrag der Beklagten ist unbegründet.

 

a. Dies gilt zunächst, soweit er sich auf die als außerordentlich ausgesprochenen Kündigungen bezieht. Nach § 13 Abs. 1 S. 3 KSchG in Verbindung mit § 13 Abs. 3 KSchG ist dem Arbeitgeber die Stellung eines Auflösungsantrags nach außerordentlicher Kündigung verwehrt (Treber/Rennpferdt in KR, a.a.O., § 13 KSchG Rn. 153 mit weiteren Nachweisen).

 

b. Der Auflösungsantrag ist der Beklagten aber auch hinsichtlich der ordentlichen Kündigungen verwehrt. Diese sind wegen des Eingreifens des Sonderkündigungsschutzes nach § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG unwirksam (Spilger in KR, a.a.O., § 9 KSchG Rn. 77 mit weiteren Nachweisen).

 

c. Unabhängig hiervon sind auch materiell Auflösungsgründe nicht gegeben. Im Zeitpunkt der Ablösung des Angebots einer Prozessbeschäftigung hielt die Beklagte an der Wirksamkeit ihrer außerordentlichen Kündigungen fest. Die Klägerin war nicht verpflichtet, Beschäftigungsangebote anzunehmen, weil die Beklagte ihre Kündigungen nicht zurückgenommen hatte. Die Ablehnung des Angebots könnte allenfalls Auswirkungen auf mögliche Annahmeverzugsansprüche der Klägerin haben. Dies gilt erst recht deswegen, weil die Beklagte eine Beschäftigung mit zwei Tagen pro Woche in Remscheid angeboten hat. Aus dem Umstand, dass die zwei Kindern unterhaltspflichtige Klägerin diese Auswärtsbeschäftigung abgelehnt hat, lassen sich keine Schlüsse auf eine grundsätzliche Ablehnung einer Tätigkeit für die Beklagte ziehen.

 

d. Dies gilt auch in Zusammenhang mit den behaupteten Äußerungen gegenüber der Angestellten L.. Es handelt sich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Arbeitnehmerinnen über eine möglicherweise missverständliche Äußerung der Klägerin gegenüber dem Betriebsratsmitglied. Diese Äußerung würde, selbst wenn sie – den Wortlaut hat die Beklagte nicht vorgetragen – mit den Worten „Lügnerin“ und „unzuverlässige Person“ gefallen sein sollte, weder für den Ausspruch einer Kündigung genügen noch lässt sich – es handelt sich um ein einmaliges Ereignis – daraus folgern, dass eine gedeihliche Zusammenarbeit der Parteien nicht mehr möglich wäre.

 

7. Nach alldem hat die Berufung der Beklagten – einschließlich ihres Auflösungsantrags – keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat zutreffend entschieden, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst ist. Die Berufung ist insgesamt zurückzuweisen.

 

8. Die Beklagte hat die Kosten ihres erfolglosen Berufungsverfahrens zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).

 

9. Für die Zulassung der Revision besteht kein gesetzlich begründeter Anlass.

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