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Arbeitsrecht
29.07.2015
Arbeitsrecht
BAG: Ordentliche Kündigung wegen lang andauernder Erkrankung - Ungewissheit über die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit - schwerbehinderter Arbeitnehmer - alternative Beschäftigungsmöglichkeit - Darlegungslast des Arbeitgebers - betriebliches Eingliederun

Das BAG hat mit Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR 664/13 – wie folgt entschieden:

 

1. Die dauerhafte Unfähigkeit des Arbeitnehmers, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, indiziert eine negative Prognose hinsichtlich der künftigen Entwicklung des Gesundheitszustands. Sie führt - sofern es an alternativen, leidensgerechten Beschäftigungsmöglichkeiten fehlt - regelmäßig zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen und ist damit geeignet, eine ordentliche krankheitsbedingte Kündigung zu rechtfertigen. Der dauernden Leistungsunfähigkeit steht es kündigungsrechtlich gleich, wenn im Kündigungszeitpunkt die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers völlig ungewiss ist.

 

2. Die sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebende Verpflichtung des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer nach Möglichkeit zur Vermeidung einer Kündigung auf einem anderen - leidensgerechten - Arbeitsplatz weiterzubeschäftigen, schließt in Krankheitsfällen die Pflicht des Arbeitgebers ein, eine entsprechend geeignete Stelle - falls möglich - durch Ausübung des Direktionsrechts (§ 106 GewO) „freizumachen“ und sich ggf. um die erforderliche Zustimmung des Betriebsrats zu bemühen.

 

3. Demgegenüber ist der Arbeitgeber allein aufgrund des allgemeinen Kündigungsschutzes nicht verpflichtet, für den erkrankten Arbeitnehmer einen besetzten leidensgerechten Arbeitsplatz im Wege einer Kündigung „freizumachen“. Auch eine Schwerbehinderung des erkrankten Arbeitnehmers vermag eine solche Verpflichtung jedenfalls dann nicht zu begründen, wenn der Inhaber der infrage kommenden Stelle seinerseits allgemeinen Kündigungsschutz nach dem KSchG genießt. Fehlt es daran, kommt eine Pflicht zur „Freikündigung“ - soweit überhaupt - allenfalls dann in Betracht, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer darlegt und ggf. beweist, dass der betroffene Stelleninhaber seinerseits nicht behindert ist und eine Kündigung für diesen keine besondere Härte darstellt. An dieser Darlegungslast ändert sich auch dadurch nichts, dass der Arbeitgeber - obwohl erforderlich - ein betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) nicht durchgeführt hat.

 

4. Im Rahmen einer krankheitsbedingten Kündigung können bei der Interessenabwägung die Krankheitsursachen von Bedeutung sein. In aller Regel ist dem Arbeitgeber die Hinnahme einer Beeinträchtigung seiner betrieblichen Interessen eher zuzumuten, wenn die Gründe für die Arbeitsunfähigkeit im betrieblichen Bereich liegen. Das schließt es in Fällen dauerhafter Leistungsunfähigkeit oder völliger Ungewissheit über die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers nicht aus, im Einzelfall das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers gegenüber dem Interesse des Arbeitnehmers an der Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses höher zu bewerten, auch wenn die Leistungsunfähigkeit im Zusammenhang mit einem Arbeitsunfall steht.

 

5. Eine auf dauerhafte krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit gestützte Kündigung verstößt nicht ohne Weiteres gegen das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung nach § 7 Abs. 1 AGG und Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der ihm zugrunde liegenden europäischen Richtlinie 2000/78/EG. Selbst wenn die fragliche Krankheit als Behinderung einzustufen ist, kann sich die Kündigung - auch unionsrechtlich - als wirksam erweisen, falls der Arbeitgeber nicht imstande ist, der Leistungsunfähigkeit des Arbeitnehmers durch angemessene Vorkehrungen, dh. durch effektive und praktikable, ihn - den Arbeitgeber - nicht unzumutbar belastende Maßnahmen zu begegnen.

 

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