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Wirtschaftsrecht
12.03.2015
Wirtschaftsrecht
EuGH: Haftung für fehlerhafte Produkte

EuGH, Urteil vom 5.3.2015 — verb. Rs. C503/13 und C504/13; ECLI:EU:C:2015:148

Tenor

1. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte ist dahin auszulegen, dass ein Produkt, das zu einer Gruppe oder Produktionsserie von Produkten wie Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren gehört, bei denen ein potenzieller Fehler festgestellt wurde, als fehlerhaft eingestuft werden kann, ohne dass der Fehler bei diesem Produkt festgestellt zu werden braucht.

2. Die Art. 1 und 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 sind dahin auszulegen, dass es sich bei dem durch eine chirurgische Operation zum Austausch eines fehlerhaften Produkts wie eines Herzschrittmachers oder eines implantierbaren Cardioverten Defibrillators verursachten Schaden um einen „durch Tod und Körperverletzungen verursachten Schaden“ handelt, für den der Hersteller haftet, wenn diese Operation erforderlich ist, um den Fehler des betreffenden Produkts zu beseitigen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzung in den Ausgangsverfahren erfüllt ist.

Aus den Gründen

Unionsrecht

3          In den Erwägungsgründen 1, 2, 6, 7 und 9 der Richtlinie 85/374 heißt es:

„Eine Angleichung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über die Haftung des Herstellers für Schäden, die durch die Fehlerhaftigkeit seiner Produkte verursacht worden sind, ist erforderlich, weil deren Unterschiedlichkeit … zu einem unterschiedlichen Schutz des Verbrauchers vor Schädigungen seiner Gesundheit und seines Eigentums durch ein fehlerhaftes Produkt führen kann.

Nur bei einer verschuldensunabhängigen Haftung des Herstellers kann das unserem Zeitalter fortschreitender Technisierung eigene Problem einer gerechten Zuweisung der mit der modernen technischen Produktion verbundenen Risiken in sachgerechter Weise gelöst werden.

Damit der Verbraucher in seiner körperlichen Unversehrtheit und seinem Eigentum geschützt wird, ist zur Bestimmung der Fehlerhaftigkeit eines Produkts nicht auf dessen mangelnde Gebrauchsfähigkeit, sondern auf einen Mangel an Sicherheit abzustellen, die von der Allgemeinheit berechtigterweise erwartet werden darf. Bei der Beurteilung dieser Sicherheit wird von jedem missbräuchlichen Gebrauch des Produkts abgesehen, der unter den betreffenden Umständen als unvernünftig gelten muss.

Eine gerechte Verteilung der Risiken zwischen dem Geschädigten und dem Hersteller bedingt, dass es dem Hersteller möglich sein muss, sich von der Haftung zu befreien, wenn er den Beweis für ihn entlastende Umstände erbringt.

Der Schutz des Verbrauchers erfordert die Wiedergutmachung von Schäden, die durch Tod und Körperverletzungen verursacht wurden, sowie die Wiedergutmachung von Sachschäden. …“

4          Art. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Der Hersteller eines Produkts haftet für den Schaden, der durch einen Fehler dieses Produkts verursacht worden ist.“

5          Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:

„(1) ‚Hersteller‘ ist der Hersteller des Endprodukts, eines Grundstoffs oder eines Teilprodukts sowie jede Person, die sich als Hersteller ausgibt, indem sie ihren Namen, ihr Warenzeichen oder ein anderes Erkennungszeichen auf dem Produkt anbringt.

(2)      Unbeschadet der Haftung des Herstellers gilt jede Person, die ein Produkt zum Zweck des Verkaufs, der Vermietung, des Mietkaufs oder einer anderen Form des Vertriebs im Rahmen ihrer geschäftlichen Tätigkeit in die Gemeinschaft einführt, im Sinne dieser Richtlinie als Hersteller dieses Produkts und haftet wie der Hersteller.“

6          Art. 4 der Richtlinie lautet:

„Der Geschädigte hat den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden zu beweisen.“

7          Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 bestimmt:

„Ein Produkt ist fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere

a) der Darbietung des Produkts,

b) des Gebrauchs des Produkts, mit dem billigerweise gerechnet werden kann,

c) des Zeitpunkts, zu dem das Produkt in den Verkehr gebracht wurde,

zu erwarten berechtigt ist.“

8          Art. 9 Satz 1 der Richtlinie sieht vor:

„Der Begriff ‚Schaden‘ im Sinne des Artikels 1 umfasst

a) den durch Tod und Körperverletzungen verursachten Schaden;

b) die Beschädigung oder Zerstörung einer anderen Sache als des fehlerhaften Produktes …

…“

Deutsches Recht

9          § 1 Abs. 1 und 4 des Gesetzes über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 15. Dezember 1989 (BGBl. I S. 2198) bestimmt:

„(1) Wird durch den Fehler eines Produkts jemand getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Hersteller des Produkts verpflichtet, dem Geschädigten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Im Falle der Sachbeschädigung gilt dies nur, wenn eine andere Sache als das fehlerhafte Produkt beschädigt wird und diese andere Sache ihrer Art nach gewöhnlich für den privaten Ge- oder Verbrauch bestimmt und hierzu von dem Geschädigten hauptsächlich verwendet worden ist.

(4) Für den Fehler, den Schaden und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden trägt der Geschädigte die Beweislast. …“

10        § 3 Abs. 1 dieses Gesetzes lautet:

„Ein Produkt hat einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere

a) seiner Darbietung,

b) des Gebrauchs, mit dem billigerweise gerechnet werden kann,

c) des Zeitpunkts, in dem es in den Verkehr gebracht wurde,

berechtigterweise erwartet werden kann.“

11        § 8 des Gesetzes sieht vor:

„Im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit ist Ersatz der Kosten der Heilung sowie des Vermögensnachteils zu leisten, den der Verletzte dadurch erleidet, dass infolge der Verletzung zeitweise oder dauernd seine Erwerbsfähigkeit aufgehoben oder gemindert ist oder seine Bedürfnisse vermehrt sind. …“

Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

12        Die G. Corporation, jetzt B. S. Corporation, eine Gesellschaft mit Sitz in Saint-Paul (Vereinigte Staaten), stellt Herzschrittmacher und implantierbare Cardioverte Defibrillatoren her und verkauft sie.

13        G. führte Herzschrittmacher des Typs „Guidant Pulsar 470“ und „Guidant Meridian 976“, die von der G. Corporation in den Vereinigten Staaten hergestellt worden waren, sowie von dieser in Europa hergestellte implantierbare Cardioverte Defibrillatoren des Typs „G. Contak Renewal 4 AVT 6“ nach Deutschland ein und vertrieb sie dort.

Empfehlungen von G. vom 22. Juli 2005 in Bezug auf die Herzschrittmacher und nachfolgender Sachverhalt in der Rechtssache C503/13

14        Mit Schreiben vom 22. Juli 2005, das u. a. den behandelnden Ärzten übersandt wurde, teilte G. mit, ihr Qualitätskontrollsystem habe die Feststellung ermöglicht, dass ein zur hermetischen Versiegelung der von ihr vertriebenen Herzschrittmacher verwendetes Bauteil möglicherweise einem sukzessiven Verfall unterliege. Dieser könne zur vorzeitigen Batterieerschöpfung mit Verlust der Telemetrie und/oder der Herzstimulationstherapie ohne Vorwarnung führen.

15        G. empfahl den Ärzten daher u. a., den Austausch der Schrittmacher ihrer Patienten zu erwägen. Obwohl für die Schrittmacher kein Garantieanspruch mehr bestand, verpflichtete sich G., den schrittmacherabhängigen Patienten und solchen, bei denen die Ärzte einen Austausch befürworteten, kostenlos Ersatzgeräte zur Verfügung zu stellen.

16        Infolge dieser Empfehlung wurden die Herzschrittmacher, die den bei der AOK versicherten B und W zuvor implantiert worden waren, im September bzw. November 2005 durch andere, von der Herstellerin kostenlos zur Verfügung gestellte Herzschrittmacher ersetzt. Die explantierten Herzschrittmacher wurden vernichtet, ohne dass ein Gutachten über ihre Funktionsfähigkeit erstellt worden wäre.

17        Die AOK, auf die die Ansprüche von B und W übergegangen waren, verklagte Boston Scientific Medizintechnik beim Amtsgericht Stendal auf Ersatz der Kosten im Zusammenhang mit der Implantation der ersten Herzschrittmacher, aktualisiert für den Zeitpunkt des Austauschs dieser Schrittmacher. Diese Kosten beliefen sich auf 2 655,38 Euro für B und auf 5 914,07 Euro für W.

18        Mit Urteil vom 25. Mai 2011 gab das Amtsgericht Stendal der Klage statt. Nachdem die dagegen gerichtete Berufung vom Landgericht Stendal zurückgewiesen worden war, legte Boston Scientific Medizintechnik beim vorlegenden Gericht Revision ein.

Empfehlungen von G. vom Juni 2005 in Bezug auf die implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren und nachfolgender Sachverhalt in der Rechtssache C504/13

19        Mit Schreiben vom Juni 2005 teilte G. den behandelnden Ärzten mit, ihr Qualitätskontrollsystem habe die Feststellung ermöglicht, dass die Funktionsfähigkeit der implantierbaren Defibrillatoren des Typs „G. Contak Renewal 4 AVT 6“ durch einen Bauelemente-Fehler beeinträchtigt werden könne, der geeignet sei, die Therapiewirkungen einzuschränken. Die durchgeführte technische Analyse habe ergeben, dass ein Magnetschalter dieser Defibrillatoren in der geschlossenen Position hängen bleiben könne.

20        Wie sich aus der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C504/13 ergibt, würde die Behandlung von ventrikulären und atrialen Arrythmien unterbunden, wenn die Funktion Magnetfunktion aktivieren aktiviert wäre und der Magnetschalter in der geschlossenen Position hängen bliebe. Infolgedessen würde eine etwaige lebensgefährliche Herzrhythmusstörung von den Defibrillatoren nicht erkannt, und diese würden keinen das Leben des Patienten rettenden Schock abgeben.

21        Daher empfahl G. den behandelnden Ärzten, die Magnetfunktion der betreffenden Defibrillatoren zu deaktivieren.

22        Am 2. März 2006, nach der Verbreitung der in Rn. 19 des vorliegenden Urteils genannten Mitteilung, wurde der implantierbare Cardioverte Defibrillator des bei der Betriebskrankenkasse RWE versicherten F vorzeitig ausgetauscht.

23        Mit Schreiben vom 31. August 2009 begehrte die Betriebskrankenkasse RWE von Boston Scientific Medizintechnik Ersatz der Kosten für die Behandlung ihres Versicherten in Höhe von 20 315,01 Euro und 122,50 Euro im Zusammenhang mit der Operation zum Austausch des Defibrillators.

24        Das von der Betriebskrankenkasse RWE mit einer Klage gegen Boston Scientific Medizintechnik auf Erstattung dieser Kosten befasste Landgericht Düsseldorf gab der Klage mit Urteil vom 3. Februar 2011 statt. Auf die von Boston Scientific Medizintechnik dagegen gerichtete Berufung änderte das Oberlandesgericht Düsseldorf das Urteil teilweise ab und verurteilte Boston Scientific Medizintechnik zur Zahlung von 5 952,80 Euro nebst Zinsen. Diese legte beim vorlegenden Gericht Revision ein und beantragte, die Klage der Betriebskrankenkasse RWE in vollem Umfang abzuweisen.

Erwägungen des vorlegenden Gerichts in den Rechtssachen C503/13 und C504/13

25        Das vorlegende Gericht stellt fest, dass es für die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten darauf ankomme, ob die Herzschrittmacher und der Cardioverte Defibrillator, die den betreffenden Versicherten implantiert worden seien, fehlerhafte Produkte im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG seien. Insoweit sei noch nicht geklärt, ob diese Geräte, weil sie zu einer Gruppe von Produkten gehörten, die ein Ausfallrisiko hätten, selbst fehlerhaft seien.

26        In diesem Zusammenhang könne dahinstehen, ob in medizinischen Fachkreisen anerkannt sei, dass bei der Implantation eines Herzschrittmachers oder eines Cardioverten Defibrillators keine vollkommene Sicherheit gewährleistet werden könne. Angesichts der Lebensgefahr, die von einem fehlerhaften Gerät ausgehe, müsse der Patient grundsätzlich eine gegen null gehende Fehlerquote des implantierten Geräts erwarten dürfen.

27        In Bezug auf die implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren begründe der Umstand, dass der therapeutische Nutzen der Funktion „Magnetfunktion aktivieren“ bei deren Deaktivierung wegfalle, keine Gefahr für Leib und Leben des Patienten. Durch die Deaktivierung werde die Speicherung der Patientendaten nicht unterbrochen. Dass eine vorübergehende Inhibierung der Tachyarrhythmietherapie in diesem Fall nur mit einem Programmiergerät vorgenommen werden könne, führe nicht zu einer Gesundheitsgefahr, sondern lediglich zu einer Beschränkung der Funktionalität der Defibrillatoren.

28        Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende, in den Rechtssachen C503/13 und C504/13 ähnlich formulierte Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.         Ist Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 dahin auszulegen, dass ein Produkt, wenn es sich um ein in den menschlichen Körper implantiertes Medizinprodukt (hier: Herzschrittmacher oder implantierbarer Cardioverter Defibrillator) handelt, bereits dann fehlerhaft ist, wenn Herzschrittmacher derselben Produktgruppe ein nennenswert erhöhtes Ausfallrisiko haben oder bei einer signifikanten Anzahl von Defibrillatoren derselben Serie eine Fehlfunktion aufgetreten ist, ein Fehler des im konkreten Fall implantierten Geräts aber nicht festgestellt ist?

2.         Falls die Frage 1 mit ja beantwortet wird:

Handelt es sich bei den Kosten der Operation zur Explantation des Produkts und zur Implantation eines anderen Herzschrittmachers oder eines anderen Defibrillators um einen durch Körperverletzung verursachten Schaden im Sinne der Art. 1 und 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374?

29        Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 2. Oktober 2013 sind die Rechtssachen C503/13 und C504/13 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

30        Das mündliche Verfahren ist am 21. Oktober 2014 nach Stellung der Schlussanträge des Generalanwalts geschlossen worden.

31        Mit Schreiben vom 10. November 2014, das am selben Tag beim Gerichtshof eingegangen ist, hat Boston Scientific Medizintechnik die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.

32        Zur Begründung ihres Antrags macht sie insbesondere geltend, die Schlussanträge des Generalanwalts stützten sich auf rechtliche Erwägungen, und zwar aus Art. 168 AEUV und Art. 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, zu denen die Verfahrensparteien nicht hätten Stellung nehmen können. Darüber hinaus trägt Boston Scientific Medizintechnik vor, die Schlussanträge des Generalanwalts seien in mehrfacher Hinsicht fehlerhaft.

33        Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

34        Im vorliegenden Fall geht der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts davon aus, dass er über alle zur Beantwortung der Vorlagefragen erforderlichen Angaben verfügt und dass diese Angaben im Verfahren vor ihm erörtert worden sind.

35        Daher ist der Antrag von Boston Scientific Medizintechnik auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zurückzuweisen.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

36        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 dahin auszulegen ist, dass ein Produkt, das zu einer Gruppe oder Produktionsserie von Produkten wie Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren gehört, bei denen ein potenzieller Fehler festgestellt wurde, als fehlerhaft eingestuft werden kann, ohne dass der Fehler bei diesem Produkt festgestellt zu werden braucht.

37        Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass ein Produkt nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie fehlerhaft ist, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Darbietung dieses Produkts, seines Gebrauchs, mit dem billigerweise gerechnet werden kann, und des Zeitpunkts, zu dem es in den Verkehr gebracht wurde, zu erwarten berechtigt ist. Nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 85/374 ist diese Beurteilung anhand der berechtigten Erwartungen der Allgemeinheit vorzunehmen.

38        Die Sicherheit, die zu erwarten man nach dieser Bestimmung berechtigt ist, ist damit vor allem unter Berücksichtigung des Verwendungszwecks und der objektiven Merkmale und Eigenschaften des in Rede stehenden Produkts sowie der Besonderheiten der Benutzergruppe, für die es bestimmt ist, zu beurteilen.

39        Bei medizinischen Geräten wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren sind die Anforderungen an ihre Sicherheit, die die Patienten zu erwarten berechtigt sind, in Anbetracht ihrer Funktion und der Situation besonderer Verletzlichkeit der diese Geräte nutzenden Patienten besonders hoch.

40        Außerdem besteht, wie der Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der potenzielle Mangel an Sicherheit, der die Haftung des Herstellers nach der Richtlinie 85/374 auslöst, bei Produkten wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden in der anormalen Potenzialität eines Personenschadens, der durch sie verursacht werden kann.

41        Daher können im Fall der Feststellung eines potenziellen Fehlers solcher Produkte derselben Produktgruppe oder Produktionsserie alle Produkte dieser Gruppe oder Serie als fehlerhaft eingestuft werden, ohne dass ein Fehler des betreffenden Produkts nachgewiesen zu werden braucht.

42        Diese Auslegung steht darüber hinaus im Einklang mit den vom Unionsgesetzgeber verfolgten Zielen, die insbesondere, wie sich aus den Erwägungsgründen 2 und 7 der Richtlinie 85/374 ergibt, darin bestehen, eine gerechte Verteilung der mit der modernen technischen Produktion verbundenen Risiken zwischen dem Geschädigten und dem Hersteller zu gewährleisten.

43        Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Produkt, das zu einer Gruppe oder Produktionsserie von Produkten wie Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren gehört, bei denen ein potenzieller Fehler festgestellt wurde, als fehlerhaft eingestuft werden kann, ohne dass der Fehler bei diesem Produkt festgestellt zu werden braucht.

Zur zweiten Frage

44        Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 1 und 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 dahin auszulegen sind, dass es sich bei dem durch eine chirurgische Operation zum Austausch eines fehlerhaften Produkts wie eines Herzschrittmachers oder eines implantierbaren Cardioverten Defibrillators verursachten Schaden um einen „durch Tod und Körperverletzungen verursachten Schaden“ handelt, für den der Hersteller haftet.

45        Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Hersteller, wie sich aus Art. 1 in Verbindung mit Art. 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie ergibt, für den Schaden haftet, der durch Tod und Körperverletzungen infolge des Fehlers seines Produkts verursacht wird.

46        Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs muss für diesen in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Schaden eine angemessene und vollständige Entschädigung der durch ein fehlerhaftes Produkt Geschädigten sichergestellt werden (vgl. Urteil Veedfald, C203/99, EU:C:2001:258, Rn. 27).

47        Wie der Generalanwalt in den Nrn. 61 bis 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist der Begriff des „durch Tod und Körperverletzungen verursachten Schadens“ im Sinne von Art. 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 im Hinblick auf die von dieser Richtlinie nach ihren Erwägungsgründen 1 und 6 verfolgten Ziele des Schutzes der Sicherheit und Gesundheit der Verbraucher weit auszulegen.

48        Die Haftung des Herstellers für ein fehlerhaftes Produkt setzt nach Art. 4 der Richtlinie 85/374 den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Fehler und erlittenem Schaden voraus.

49        Der Schadensersatz umfasst dabei alles, was erforderlich ist, um die Schadensfolgen zu beseitigen und das Sicherheitsniveau wiederherzustellen, das man nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie zu erwarten berechtigt ist.

50        Deshalb sollte der Schadensersatz bei medizinischen Geräten wie Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren, die im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie fehlerhaft sind, u. a. die Kosten im Zusammenhang mit dem Austausch des fehlerhaften Produkts einschließen.

51        Im vorliegenden Fall hat G., wie sich aus der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C503/13 ergibt, den Ärzten empfohlen, den Austausch der betreffenden Herzschrittmacher zu erwägen.

52        In dieser Rechtssache ist festzustellen, dass es sich bei den Kosten im Zusammenhang mit dem Austausch der Schrittmacher, einschließlich der Kosten für die chirurgischen Operationen, um einen Schaden im Sinne von Art. 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 handelt, für den der Hersteller nach Art. 1 der Richtlinie haftet.

53        Diese Beurteilung kann bei den implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren anders ausfallen, da G., wie aus der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C504/13 hervorgeht, lediglich empfahl, die Magnetfunktion dieser medizinischen Geräte zu deaktivieren.

54        Insoweit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob eine solche Deaktivierung unter Berücksichtigung der Situation besonderer Verletzlichkeit der Patienten, die einen implantierbaren Cardioverten Defibrillator nutzen, geeignet ist, den Fehler dieses Produkts zu beseitigen, der in dem anormalen Schadensrisiko liegt, das dadurch für die betroffenen Patienten besteht, oder ob ein Austausch des Produkts erforderlich ist, um diesen Fehler zu beseitigen.

55        Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 1 und 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 dahin auszulegen sind, dass es sich bei dem durch eine chirurgische Operation zum Austausch eines fehlerhaften Produkts wie eines Herzschrittmachers oder eines implantierbaren Cardioverten Defibrillators verursachten Schaden um einen „durch Tod und Körperverletzungen verursachten Schaden“ handelt, für den der Hersteller haftet, wenn diese Operation erforderlich ist, um den Fehler des betreffenden Produkts zu beseitigen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzung in den Ausgangsverfahren erfüllt ist.

Kosten

56        Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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