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Steuerrecht
19.01.2017
Steuerrecht
EuGH-Schlussantrag: Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem

GA Campos Sánchez-Bordona, Schlussantrag vom 12.1.2017 – verb. Rs. C-217/15, C-350/15, Orsi/Baldetti, ECLI:EU:C:2017:14

Volltext: BB-Online BBL2017-149-2

Tenor

Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union kommt dann nicht zur Anwendung, wenn im Fall einer Dualität von Verfahren und Sanktionen mit verwaltungs- und strafrechtlichem Charakter wegen ein und desselben Sachverhalts die steuerlichen Sanktionen gegen eine juristische Person, z. B. eine Handelsgesellschaft, verhängt werden, das Strafverfahren sich indessen gegen eine natürliche Person richtet, und zwar auch dann, wenn diese Person gesetzlicher Vertreter der juristischen Person ist.

Schlussanträge

1.   Unter welchen Voraussetzungen greift der Grundsatz ne bis in idem ein, wenn die Regelungen einiger Staaten es gestatten, verwaltungsrechtliche und strafrechtliche Sanktionen zu kumulieren, um die Nichtabführung erheblicher Mehrwertsteuerbeträge zu ahnden? Mit dieser Frage lässt sich das Problem zusammenfassen, mit dem sich der Gerichtshof hier erneut zu befassen hat.

2.   Mit seinem Urteil Åkerberg Fransson(2) (im Folgenden: Urteil Åkerberg Fransson) vom 26. Februar 2013 hat der Gerichtshof die Linie festgelegt, die im Hinblick auf das Recht einer Person, nicht zweimal für ein und dieselbe Verletzung ihrer Verpflichtung zur Abführung der Mehrwertsteuer bestraft zu werden, für die nationalen Gerichte verbindlich sein sollte. Dies geschah unter Übernahme von Lösungsansätzen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) entwickelt hatte. Die Antwort im angeführten Urteil gab jedoch in einigen Mitgliedstaaten, so auch in Italien, Anlass zu Problemen und Meinungsverschiedenheitem in der Richterschaft.

3.   Insbesondere seit dem vor Kurzem ergangenen Urteil des EGMR vom 15. November 2016(3) wird der Gerichtshof seine Rechtsprechung auf diesem Gebiet ergänzen und präzisieren müssen. Allerdings bietet sich dafür hier nicht die beste Gelegenheit, da die Antwort auf beide Vorabentscheidungsersuchen vom am wenigsten problematischen Element des Grundsatzes ne bis in idem abhängt, dem der Identität der bestraften Personen.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 (im Folgenden: EMRK)

4.   Das Zusatzprotokoll Nr. 7 zur EMRK, unterzeichnet in Straßburg am 22. November 1984 (im Folgenden: Protokoll Nr. 7), regelt in seinem Art. 4 das „Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden“. Die Vorschrift hat folgenden Wortlaut:

„(1) Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.

(2) Artikel 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.

(3) Von diesem Artikel darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden.“

B –    Recht der Europäischen Union

5.   Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) lautet:

„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“

6.   Art. 51 der Charta bestimmt deren Anwendungsbereich:

„(1) Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.

(2) Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.“

C –    Italienisches Recht

7.   Art. 13 Abs. 1 des Decreto Legislativo Nr. 471 vom 18. Dezember 1997 zur Reform der nicht strafrechtlichen Steuersanktionen im Bereich der direkten Steuern, der Mehrwertsteuer und des Steuereinzugs gemäß Art. 3 Abs. 133 Buchst. q des Gesetzes Nr. 662 vom 23. Dezember 1996 bestimmt(4):

„Wer es ganz oder teilweise unterlässt, innerhalb der vorgesehenen Fristen Abschlagszahlungen, wiederkehrende Zahlungen, die Ausgleichszahlung oder den sich aus der Erklärung ergebenden Steuersaldo, in diesen Fällen abzüglich des Betrags der wiederkehrenden Zahlungen und der Vorauszahlungen, auch wenn sie nicht entrichtet wurden, zu leisten, wird mit einer Verwaltungssanktion belegt, die 30 % des jeweils nicht geleisteten Betrags entspricht, auch wenn sich infolge der Berichtigung von bei der Überprüfung der jährlichen Erklärung festgestellten Schreib- oder Rechenfehlern eine höhere Steuer oder ein geringerer abzugsfähiger Überschuss ergibt. Für die Zahlungen, die mit einer Verspätung von nicht mehr als 15 Tagen geleistet werden, wird die Sanktion nach Satz 1 über das in Art. 13 Abs. 1 des Decreto Legislativo Nr. 472 vom 18. Dezember 1997 Vorgesehene hinaus zusätzlich auf einen Betrag gekürzt, der einem Fünfzehntel für jeden Tag der Verspätung entspricht. Dieselbe Sanktion gilt in den Fällen der Berechnung der erhöhten Steuer nach den Art. 36bis und 36ter des Dekrets Nr. 600 des Präsidenten der Republik vom 29. September 1973 und nach Art. 54bis des Dekrets Nr. 633 des Präsidenten der Republik vom 26. Oktober 1972.“(5)

8.   Das Decreto Legislativo Nr. 74/2000 vom 10. März 2000 über Straftaten im Bereich der direkten Steuern und der Mehrwertsteuer(6) (im Folgenden: Decreto Legislativo Nr. 74/2000) regelt in Art. 10ter die „Nichtabführung der Mehrwertsteuer“. Die Vorschrift lautet:

„Art. 10bis findet innerhalb der dort festgelegten Grenzen auch auf denjenigen Anwendung, der die nach der jährlichen Steuererklärung geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der für Abschlagszahlungen für den folgenden Steuerzeitraum geltenden Frist abführt.“

9.   Art. 10bis des Decreto Legislativo bestimmt seinerseits:

„Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren wird bestraft, wer die sich aus der den Steuerpflichtigen ausgestellten Bescheinigung ergebenden Steuerabzüge nicht innerhalb der Frist zur Vorlage der Jahressteuererklärung des Steuerabzugsverpflichteten abführt, wenn der geschuldete Betrag im jeweiligen Besteuerungszeitraum 50 000 Euro übersteigt.“

10. Die im Titel „Verhältnis zum System verwaltungsrechtlicher Sanktionen und Verhältnis der Verfahren untereinander“ enthaltenen Art. 19 bis 21 des Decreto Legislativo Nr. 74/2000 bestimmen zusammengefasst: a) Die Spezialvorschrift ist anzuwenden, wenn derselbe Sachverhalt von einer Vorschrift des Titels II und von einer Vorschrift sanktioniert wird, die eine verwaltungsrechtliche Sanktion androht; b) das Strafverfahren und das Verwaltungsverfahren verlaufen getrennt voneinander, d. h. keines von ihnen ruht bis zum Ergehen einer Entscheidung im anderen Verfahren; c) die zuständige Behörde verhängt die verwaltungsrechtlichen Sanktionen für die steuerrechtlichen Zuwiderhandlungen, die gleichzeitig Gegenstand einer strafrechtlichen Zuwiderhandlung sind; d) diese Sanktionen können allerdings nicht vollstreckt werden, solange nicht das Strafverfahren durch Einstellung oder durch einen unwiderruflichen Freispruch durch Sachurteil oder aufgrund der Feststellung, dass ein Grund besteht, der die strafrechtliche Relevanz der Tat ausschließt, beendet ist. Im letzten Fall beginnt die Frist für die Eintreibung mit dem Tag der Verkündung des Freispruchs.

11. Erst nachdem die Taten, die zu den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen geführt haben, begangen worden waren, erfuhr die italienische Regelung durch das Decreto Legislativo Nr. 158 vom 24. September 2015(7) (Decreto Legislativo Nr. 158 vom 24. September 2015 über die Änderung des Sanktionssystems nach Art. 8 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 23 vom 11. März 2014, im Folgenden: Decreto Legislativo Nr. 158/2015) eine Änderung. Diese betraf unter anderem die Art. 10bis und 10ter des Decreto Legislativo Nr. 74/2000 sowie die Einführung eines weiteren Strafausschlussgrundes durch seinen neuen Art. 13.

12. Gemäß Art. 7 des Decreto Legislativo Nr. 158/2015 hat Art. 10bis des Decreto Legislativo 74/2000 nunmehr folgende Fassung:

„Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren wird bestraft, wer innerhalb der Frist zur Vorlage der Jahressteuererklärung die auf der Grundlage dieser Erklärung geschuldeten Abschlagszahlungen oder die sich aus der vom Steuerabzugsverpflichteten ausgestellten Bescheinigung ergebenden Steuerabzüge nicht bezahlt, wenn der geschuldete Betrag im jeweiligen Besteuerungszeitraum 150 000 Euro übersteigt.“

13. Durch Art. 8 des Decreto Legislativo Nr. 158/2015 wurde Art. 10ter des Decreto Legislativo Nr. 74/2000 mit Wirkung vom 22. Oktober 2015 wie folgt geändert:

„Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren wird bestraft, wer innerhalb der für die Abschlagszahlung für den folgenden Steuerzeitraum geltenden Frist die nach der Jahressteuererklärung geschuldete Mehrwertsteuer nicht bezahlt, wenn der geschuldete Betrag im jeweiligen Besteuerungszeitraum 250 000 Euro übersteigt.“

14. In Art. 7 des Decreto-legge Nr. 269 vom 30. September 2003(8) über die Anwendbarkeit steuerrechtlicher Verwaltungssanktionen auf juristische Personen heißt es:

„(1) Verwaltungssanktionen, die auf spezielle steuerliche Verpflichtungen von Gesellschaften oder sonstigen Vereinigungen mit eigener Rechtspersönlichkeit Bezug nehmen, sind nur auf diese juristischen Personen anwendbar.

(2) Die Vorschriften des Abs. 1 finden auf Zuwiderhandlungen Anwendung, die noch nicht verfolgt worden sind oder über deren Sanktionierung am Tag des Inkrafttretens dieses Dekrets noch nicht entschieden ist.

Auf die in diesem Artikel geregelten Fälle sind die Vorschriften des Decreto Legislativo Nr. 472 vom 18. Dezember 1997 anzuwenden, wenn sie vereinbar sind.“

II – Nationale Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15. Dem Gerichtshof liegen zwei ähnliche Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Santa Maria Capua Vetere (Gericht von Santa Maria Capua Vetere, Italien) zur Beantwortung vor.

16. Das Ausgangsverfahren in der Rechtssache C217/15 ist ein Strafverfahren gegen Herrn Massimo Orsi als gesetzlichem Vertreter der Gesellschaft Servizi Ambiente e Commercio s.r.l. wegen Nichtabführung von 1 014 288 Euro auf den Besteuerungszeitraum 2011 entfallender Mehrwertsteuer innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist.

17. Das Strafverfahren wurde aufgrund einer Anzeige der Agenzia delle Entrate (Agentur für Einnahmen, Italien) bei der Procura della Repubblica (Staatsanwaltschaft, Italien) eingeleitet, in der diese erklärte, das Unternehmen, dessen gesetzlicher Vertreter Herr Orsi sei, habe die Mehrwertsteuer nicht abgeführt, was den Straftatbestand des Art. 10ter in Verbindung mit Art. 10bis des Decreto Legislativo Nr. 74/2000 erfülle. Im Verlauf dieses Strafverfahrens hat Herr Orsi ein Rechtsmittel gegen die Anordnung der vorläufigen Beschlagnahme seiner Vermögensgegenstände eingelegt.

18. Vor der Einleitung des Strafverfahrens war die steuerrechtliche Zuwiderhandlung bereits Gegenstand einer Steuerprüfung durch die italienische Finanzverwaltung gewesen, die gegen Herrn Orsi über die Verpflichtung zur Tilgung der Steuerschuld hinaus ein Bußgeld in Höhe von 30 % ihres Betrags verhängte. Am Ende dieses Verfahrens schlossen beide Parteien einen Vergleich, in dem die Agentur für Einnahmen auf die Sanktionsforderung verzichtete und zustimmte, dass Herr Orsi lediglich die geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge bezahlte. Damit wurde der Steuerprüfungsbescheid bestandskräftig, da er nicht angefochten wurde.

19. Vor diesem Hintergrund hat das Tribunale di Santa Maria Capua Vetere beschlossen, dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 10ter des Decreto legislativo Nr. 74/2000, soweit er eine strafrechtliche Verfolgung auch dann zulässt, wenn gegen den Beschuldigten wegen derselben Tat (Nichtabführung der Mehrwertsteuer) unter Verhängung einer Verwaltungssanktion in Höhe von 30 % der nicht abgeführten Steuern bereits ein bestandskräftiger Festsetzungsbescheid der Finanzverwaltung des Staates ergangen ist, im Sinne von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK und von Art. 50 der Charta mit dem Unionsrecht vereinbar?

20. Die Rechtssache C350/15 geht auf einen sehr ähnlichen Sachverhalt zurück. Herr Luciano Baldetti hatte als gesetzlicher Vertreter der Gesellschaft Evoluzione Maglia s.r.l. in deren Steuererklärung angegeben, sie schulde dem Staat 1 071 836 Euro an Mehrwertsteuer, die in den Geschäftsjahren 2010 und 2011 angefallen sei. Diese war während der festgelegten Frist nicht abgeführt worden. Die Agentur für Einnahmen leitete gegen ihn als Vertreter des Unternehmens ein Steuerprüfungsverfahren ein, in dessen Rahmen sie neben der Verpflichtung zur Tilgung der Steuerschuld entsprechende Bußgelder verhängte. Nach dem Ende der Steuerprüfung schloss die Agentur einen Vergleich mit dem Steuerpflichtigen, nach dem dieser die geschuldeten Steuerbeträge und 50 % der verhängten Bußgelder zahlen musste, während die Agentur auf die übrigen 50 % verzichtete. Damit wurde der Steuerprüfungsbescheid bestandskräftig, da er ebenfalls nicht angefochten wurde.

21. Dennoch zeigte die italienische Finanzverwaltung die Nichtabführung der Mehrwertsteuer durch Herrn Baldetti als gesetzlichen Vertreter des Unternehmens bei der Staatsanwaltschaft an, da sein Verhalten ihrer Ansicht nach den in Art. 10ter des Decreto Legislativo Nr. 74/2000 bestimmten Straftatbestand erfüllte. In diesem Strafverfahren legte Herr Baldetti ein Rechtsmittel gegen die Anordnung der vorläufigen Beschlagnahme seiner Vermögensgegenstände ein.

22. Vor diesem Hintergrund hielt es das Tribunale di Santa Maria Capua Vetere (Gericht von Santa Maria Capua Vetere) für notwendig, dem Gerichtshof folgende Frage vorzulegen, die mit der in der Rechtssache C217/15 vorgelegten Frage identisch ist:

Ist Art. 10ter des Decreto legislativo Nr. 74/2000, soweit sie eine strafrechtliche Verfolgung auch dann zulässt, wenn gegen den Beschuldigten wegen derselben Tat (Nichtabführung der Mehrwertsteuer) unter Verhängung einer Verwaltungssanktion in Höhe von 30 % der nicht abgeführten Steuern bereits ein bestandskräftiger Festsetzungsbescheid der Finanzverwaltung des Staates ergangen ist, im Sinne von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK und von Art. 50 der Charta mit dem Unionsrecht vereinbar?

23. Der Gerichtshof hat diese beiden Rechtssachen aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der Rechtssache C524/15, Menci, verbunden, die ebenfalls die doppelte Anwendung von steuer- und strafrechtlichen Sanktionen aufgrund der Nichtabführung von Mehrwertsteuer in Italien zum Gegenstand hat. Nach dem schriftlichen Verfahren hat am 8. September 2016 eine gemeinsame Verhandlung für alle drei Rechtssachen stattgefunden. Weder Herr Orsi noch Herr Baldetti haben an dieser teilgenommen, und lediglich die Vertretung von Herrn Menci hat, ebenso wie die italienische Regierung und die Europäische Kommission, ihre Argumente vorgetragen.

24. Obwohl die Verlesung der Schlussanträge in allen drei der bis zu diesem Zeitpunkt verbundenen Rechtssachen für den 17. November 2016 angekündigt war, legte die Verkündung des Urteils des EGMR in der Rechtssache A und B/Norwegen(9) es nahe, diese zu vertagen. Aus demselben Grund hat der Vorsitzende der Vierten Kammer des Gerichtshofs am 30. November 2016 beschlossen, die Verbindung der Rechtssache Menci mit den Rechtssachen Orsi und Baldetti nach Art. 54 Abs. 2 und 3 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 4 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs wieder aufzuheben.

III – Prüfung der Vorlagefragen

25. Beide Vorabentscheidungsersuchen sind, zusammengefasst, darauf gerichtet, zu klären, ob sich eine nationale Regelung wie die italienische, die zulässt, dass steuerrechtliche und strafrechtliche Sanktionen zur Ahndung ein und derselben Handlung – Nichtabführung der Mehrwertsteuer – kumulativ verhängt werden, mit Art. 50 der Charta in der Zusammenschau mit Art. 4 des Protokolls Nr. 7 vereinbaren lässt.

26. Der Grundsatz ne bis in idem erscheint im Unionsrecht in mehreren Varianten(10), deren Behandlung noch nicht vom Gerichtshof vereinheitlicht worden ist, obwohl einige Generalanwälte dies nahegelegt haben(11).

27. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem auf die Kumulierung von steuer- und strafrechtlichen Sanktionen als Antwort des Staates auf die Nichtzahlung von Steuern (konkret die Nichtabführung der Umsatzsteuer) ist im Urteil Åkerberg Fransson begründet worden.

28. Im Urteil Åkerberg Fransson(12) stellte der Gerichtshof, nachdem er seine Zuständigkeit für die Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens bejaht hatte(13), fest, dass der Grundsatz ne bis in idem „einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten im Bereich der Mehrwertsteuer eine steuerliche Sanktion und danach eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen, sofern die erste Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter hat, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist“(14). Die Freiheit der Mitgliedstaaten zur Wahl der Sanktionen wird gerechtfertigt durch das Erfordernis, die Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten(15).

29. Allerdings hat der Gerichtshof für die Kumulierung von steuer- und strafrechtlichen Sanktionen eine Grenze eingeführt: „Nur wenn die verwaltungsrechtliche Sanktion strafrechtlichen Charakter im Sinne von Art. 50 der Charta hat und unanfechtbar geworden ist, steht diese Vorschrift der Einleitung eines Strafverfahrens gegen dieselbe Person wegen derselben Tat entgegen.“ Damit können gleichzeitig steuer- und strafrechtliche Sanktionen verhängt werden, aber keine nominell verwaltungsrechtliche Sanktion, die in Wirklichkeit repressiven Charakter hat, zusammen mit einer strafrechtlichen Sanktion(16).

30. Um wiederum zu bestimmen, wann eine steuerrechtliche Sanktion strafrechtlichen Charakter hat, hat der Gerichtshof die „Engel-Kriterien“ angewandt, die er schon zuvor im Urteil Bonda(17) übernommen hatte. In der Tat hat der EGMR seit seinem Urteil Engel u. a./Niederlande(18) spezifische und autonome Kriterien entwickelt, um den Begriff „strafrechtliche Anklage“ in Art. 6 und „Strafe“ in Art. 7 der EMRK gegenüber verwaltungsrechtlichen Sanktionsmaßnahmen, die repressiven Charakter haben, abzugrenzen. Insbesondere hat er diese Kriterien zur Auslegung von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 herangezogen, d. h.(19) die rechtliche Einstufung der Zuwiderhandlung im nationalen Recht, die Art der Zuwiderhandlung sowie die Art und die Schwere der angedrohten Strafe.

31. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil Åkerberg Fransson die „Engel-Kriterien“ auf eine Regelung wie die schwedische nicht selbst angewandt, sondern diese Aufgabe dem vorlegenden nationalen Gerichts anvertraut, allerdings mit dem Hinweis, es könne nur dann zum Ergebnis kommen, dass die Kumulierung gegen Art. 50 der Charta verstoße, wenn die verbleibenden Sanktionen wirksam, angemessen und abschreckend seien(20).

32. Ausgehend von diesen Prämissen ist zu prüfen, ob in den Ausgangsverfahren die drei zur Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem erforderlichen Elemente vorliegen, nämlich: a) die Identität der sanktionierten Person, b) die Duplizität der Sanktionsverfahren und c) die Identität des den Verfahrensgegenstand bildenden Sachverhalts.

33. Zur Identität der sanktionierten Person hat sich der Gerichtshof bislang noch nicht speziell geäußert, und die Rechtsprechung des EGMR ist spärlich, da es sich dabei um das am wenigsten problematische Element des Grundsatzes ne bis in idem handelt. In einigen Urteilen ordnen der EGMR und der Gerichtshof das Element der Identität der Person praktisch in das des zu beurteilenden Sachverhalts (idem) ein(21).

34. Der EGMR hat in seinem Urteil Pirttimäki/Finnland(22) einen Fall geprüft, in dem die finnische Verwaltung gegen verschiedene Gesellschaften mit beschränkter Haftung, deren Inhaber britische Staatsangehörige waren, die in Wirklichkeit aber von Herrn Pirttimäki und anderen finnischen Staatsangehörigen kontrolliert wurden, steuerliche Sanktionen verhängt hatte. Später wurden Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung gegen Herrn Pirttimäki und diese anderen Personen eingeleitet, weil sie für die von diesen Gesellschaften erhaltenen Dividenden keine Steuererklärung abgegeben hatten. Der EGMR stellte fest, der Grundsatz ne bis in idem in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 sei hier nicht anwendbar, da im Verwaltungsverfahren die steuerlichen Sanktionen gegen die Gesellschaften verhängt worden seien, während das Strafverfahren sich gegen natürliche Personen (Herrn Pirttimäki u. a.) gerichtet habe, deren Rechtspersönlichkeit von der der Gesellschaften verschieden sei, obwohl sie an deren Beschlussfassung beteiligt gewesen seien(23).

35. Meiner Auffassung nach ist dieser Ansatzpunkt auch der geeignetste, um Art. 50 der Charta auszulegen.

36. Nach den Informationen in den beiden Vorlagebeschlüssen ist in diesen Verfahren die jeweilige steuerrechtliche Sanktion gegen zwei juristische Personen in Form von Gesellschaften (Servizi Ambiente e Commercio s.r.l. im ersten und Evoluzione Maglia s.r.l. im zweiten Fall) verhängt worden, während das Strafverfahren sich gegen deren jeweilige gesetzlichen Vertreter richtet. Ebenso wie die italienische Regierung stehe ich auf dem Standpunkt, dass dieser Umstand der Annahme einer doppelten Bestrafung derselben Person – oder eines doppelten Verfahrens gegen diese – entgegensteht, da die gegen eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung verhängte steuerrechtliche Sanktion mit der Einleitung eines Strafverfahrens gegen deren gesetzlichen Vertreter nicht vergleichbar ist, selbst wenn es sich in beiden Fällen um dieselbe Nichtabführung der Mehrwertsteuer handelt.

37. In beiden Rechtssachen fehlt es somit an der Voraussetzung der Personenidentität zwischen den Beschuldigten bzw. sanktionierten Personen im verwaltungs- und im strafrechtlichen Verfahren, was für die Anwendung des durch Art. 50 der Charta gewährleisteten Rechts unverzichtbar ist. Wegen des Nichtvorliegens dieser Voraussetzung erübrigen sich Ausführungen des Gerichtshofs zum möglichen Vorliegen der weiteren zur Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem erforderlichen Elemente.

38. Ich schlage deshalb vor, auf die in den Vorabentscheidungsersuchen C217/15 und C350/15 gestellten Fragen zu antworten, dass das durch Art. 50 der Charta geschützte Recht dann nicht zur Anwendung kommt, wenn – obwohl es sich um dieselbe Nichtabführung der Mehrwertsteuer handelt – die steuerrechtlichen Sanktionen gegen eine Handelsgesellschaft verhängt wurden, das Strafverfahren indessen gegen deren gesetzlichen Vertreter eröffnet worden ist.

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1 Originalsprache: Spanisch.

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2

C617/10, EU:C:2013:105.

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3

A und B/Norwegen (CE:ECHR:2016:1115JUD002413011).

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4

Decreto Legislativo 18 dicembre 1997, n. 471, Riforma delle sanzioni tributarie non penali in materia di imposte dirette, di imposta sul valore aggiunto e di riscossione dei tributi, a norma dell'articolo 3, comma 133, lettera q), della legge 23 dicembre 1996, n. 662 (GURI Nr. 5 vom 8. Januar 1998 – Supplemento ordinario Nr. 4).

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5

Decreto Legislativo 18 dicembre 1997, n. 472. Disposizioni generali in materia di sanzioni amministrative per le violazioni di norme tributarie, a norma dell'articolo 3, comma 133, della legge 23 dicembre 1996, n. 662 (Decreto Legislativo Nr. 662 vom 18. Dezember 1996 über allgemeine Vorschriften zu Verwaltungssanktionen wegen der Verletzung steuerlicher Vorschriften nach Art. 3 Abs. 133 des Gesetzes Nr. 662 vom 23. Dezember 1962) (GURI Nr. 5 vom 8. Januar 1998 – Supplemento ordinario Nr. 4). In Art. 13 des Decreto Legislativo ist die Möglichkeit der Herabsetzung der Sanktionen wegen Nichtzahlung von Steuern vorgesehen.

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6

Decreto Legislativo 10 marzo 2000, n. 74, Nuova disciplina dei reati in materia di imposte sui redditi e sul valore aggiunto, a norma dell'art. 9 della legge 25 giugno 1999, n. 205 (GURI Nr. 76 vom 31. März 2000).

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7

Decreto Legislativo 24. settembre 2015, n. 158, Revisione del sistema sanzionatorio, in attuazione dell'articolo 8, comma 1, della legge 11 marzo 2014, n. 23 (GURI Nr. 233 vom 7. Oktober 2015 – Supplemento ordinario Nr. 55).

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8

Decreto-legge 30 settembre 2003, n. 269, Disposizioni urgenti per favorire lo sviluppo e per la correzione dell'andamento dei conti pubblici (GURI Nr. 229 vom 2. Oktober 2003 – Supplemento ordinario Nr. 157).

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9

EGMR, Urteil vom 15. November 2016, A und B/Norwegen (CE:ECHR:2016:1115JUD002413011).

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10

Ich nehme Bezug auf Van Bockel, B., The ne bis in idem principle in EU Law, Kluwer, 2010. Siehe auch Oliver, P., und Bombois, T., „Ne bis in idem en droit européen: un principe à plusieurs variantes“, Journal de droit européen, 2012, S. 266 bis 272, und Tomkin, J., „Article 50, Right not to be tried or punished twice in criminal proceedings for the same criminal offence“, in: Peers, S., Hervey, T., Kenner, J. und Ward, A., The EU Charter of Fundamental Rights: a commentary, Hart Publishing, Oxford, 2014, S. 1373 bis 1412.

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11

Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Bonda (C489/10, EU:C:2011:845, Nr. 33 und die weiteren dort angeführten Schlussanträge).

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12

Das dort zur Diskussion stehende Problem war mit dem vorliegenden beinahe identisch: Herr Åkerberg Fransson war verwaltungsrechtlich mit einer Sanktion belegt worden, weil er erhebliche Mehrwertsteuerbeträge nicht abgeführt hatte, und nach Beendigung dieses Verfahrens wurde wegen desselben Sachverhalts ein zweites Verfahren, dieses Mal strafrechtlicher Natur, eingeleitet.

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13

Der Gerichtshof erklärte sich für zuständig, weil sich Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) und Art. 325 AEUV als anwendbar erwiesen, da es sich um einen Fall der Anwendung von Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta handelte. Seitdem bestehen keine Zweifel mehr, dass die Charta auf diese Rechtssachen anwendbar ist. Im Gegensatz dazu stellen die in Italien wegen der Nichtzahlung der Einkommensteuer verhängten steuer- und strafrechtlichen Sanktionen keine Anwendung von Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar, weshalb der Gerichtshof sich im Beschluss vom 15. April 2015, Burzio (C497/14, EU:C:2015:251), für offensichtlich unzuständig für die Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens erklärt hat.

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14

Urteil Åkerberg Fransson (Rn. 37).

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15

Ebd. (Rn. 34).

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16

Die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1) enthält in ihrem Art. 6 Vorschriften zur Gewährleistung des Grundsatzes ne bis in idem, die die Kumulierung von verwaltungsrechtlichen Sanktionen der Union mit strafrechtlichen Sanktionen der Mitgliedstaaten vermeiden sollen.

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17

Urteil vom 5. Juni 2012 (C489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37), in dem es um die Konkurrenz zwischen einem Strafverfahren in Polen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen der Europäischen Union ging, die gegen Empfänger von agrarrechtlichen Subventionen verhängt worden waren. Vgl. auch das Urteil Åkerberg Fransson (Rn. 35).

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18

EGMR, Urteil vom 8. Juni 1976 (CE:ECHR:1976:1123JUD000510071, § 82).

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19

EGMR, Urteil vom 10. Februar 2015, Kiiveri/Finnland (CE:ECHR:2015:0210JUD005375312, § 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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20

Urteil Åkerberg Fransson (Rn. 36). Aufgrund dieses Urteils änderte der schwedische Oberste Gerichtshof seine Rechtsprechung und stellte in zwei Entscheidungen aus den Monaten Juni und Juli 2013 fest, dass die schwedische Regelung, welche die Kumulierung von steuer- und strafrechtlichen Sanktionen wegen Nichtabführung von Mehrwertsteuer gestattete, den Grundsatz ne bis in idem verletze.

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21

Beispielsweise beschreibt der EGMR in seinem Urteil vom 10. Februar 2009, Zolotukhin/Russland (CE:ECHR:2009:0210JUD001493903, § 84), die Identität des Sachverhalts als die „Gesamtheit der konkreten Umstände, die denselben Täter betreffen und zeitlich wie räumlich untrennbar miteinander verbunden sind“. Hervorhebung nur hier.

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22

EGMR, Urteil vom 20. Mai 2014, Pirttimäki/Finnland (CE:ECHR:2014:0520JUD00352321, §§ 5 und 52).

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23

Vgl. auch Entscheidungen vom 2. Oktober 2003, Isaksen/Norwegen (CE:ECHR:2003:1002DEC001359602) und vom 14. September 1999, Ponsetti und Chesnel/Frankreich (CE:ECHR:1999:0914DEC003685597).

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