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BB-Standpunkte
05.01.2016
BB-Standpunkte
Professor Dr. Hansrudi Lenz: Zur Abzinsung von Rückstellungen im Kernenergiebereich nach IFRS 37

Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Warth & Klein Grant Thornton hat am 8.10.2015 im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie eine gutachtliche Stellungnahme zur Bewertung der Rückstellungen im Kernenergiebereich vorgelegt (www.bmwi.de). Diese sollte u. a. auch zur Berechnung der Rückstellungen zum 31.12.2014 nach International Financial Reporting Standards (IFRS) Stellung nehmen. In den IFRS-Konzernabschlüssen der Energieversorgungsunternehmen (EVU) E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall (Deutschland) wurden per 31.12.2014 rund 38 Mrd. Euro für Entsorgungsverpflichtungen aus dem Betrieb von 23 Kernkraftwerken in Deutschland passiviert. Die zukünftigen Auszahlungen für Stilllegung und Rückbau von Kernkraftwerken, Verpackung, Transporte sowie die Zwischen- und Endlagerung von radioaktiven Abfällen erstrecken sich über den Zeitraum von 2015 bis 2099 und wurden von den EVU mit einem durchschnittlichen risikofreien Zinssatz von 4,58 % (Spannweite 4,00 % bis 4,80 %) abgezinst. Ein Risikoabschlag auf den Zinssatz wurde nicht vorgenommen, d. h. Risiken, z. B. aus Kostensteigerungen, wurden in den Schätzungen der zukünftigen Auszahlungen berücksichtigt. Im Gutachten (Rn. 232 f.) heißt es: „Die von den EVU verwendeten Zinssätze basieren auf den Renditen langlaufender deutscher Staatsanleihen. […] Da am Markt keine Renditen für solch lange Zeiträume beobachtbar sind, stellen alle EVU bei ihrer Zinsableitung auf historische Durchschnitte der Renditen langfristiger deutscher Staatsanleihen der letzten […] 15 bis 22 Jahre ab.“ Die im Gutachten beschriebene Vorgehensweise zur Ableitung des Zinssatzes wird z. B. in den Konzernabschlüssen 2014 von E.ON, RWE und EnBW nicht näher erläutert; nur der Zinssatz wird genannt. Die gutachtliche Stellungnahme trifft ausdrücklich keine Aussagen zur Richtigkeit der Konzernabschlüsse. Dies soll hier deshalb nachgeholt werden.

Ist die von den EVU einheitlich gewählte Vorgehensweise mit IFRS 37.47 vereinbar? Hiernach sind die Abzinsungssätze Sätze vor Steuern, „die die aktuellen Markterwartungen im Hinblick auf den Zinseffekt sowie die für die Schuld spezifischen Risiken widerspiegel[n].“ Zutreffend wird deshalb im Gutachten ausgeführt (Rn. 34 f.): „Für eine aktuelle Bewertung kann es nicht auf historische, früher einmal beobachtbare Zinsen ankommen. […] Wir erachten es daher unter wirtschaftlichen Erwägungen wie auch mit Blick auf IFRS als für unseren Bewertungsanlass geboten, die tatsächlichen aktuellen Marktzinsen zu verwenden.“ Derartige Zinssätze können z. B. sachgerecht unter Verwendung der von der Deutschen Bundesbank für börsennotierte Bundeswertpapiere zum 31.12.2014 ermittelten Zinsstrukturkurve (spot rates) berechnet werden. Hierbei wird – einem Vorschlag des Instituts der Wirtschaftsprüfer folgend – der Zinssatz ab dem dreißigsten Jahr fortgeschrieben. Bei dieser Methode ergab sich Ende 2014 ein Zinssatz für eine Laufzeit von 30 Jahren von 1,59 %. Das Gutachten verwendet die Zinsstrukturkurve, die die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen nach der Methodik des Stresstests für Versicherungen Ende 2014 verwendet hat, und kommt damit je nach Annahmekonstellation zu Zinssätzen zwischen minimal 1,91 % und maximal 2,83 %. Damit ergeben sich deutlich höhere Werte für die Entsorgungsverpflichtungen, welche zwischen rd. 51 Mrd. Euro und rd. 77 Mrd. Euro für alle EVU liegen (Rn. 259).

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es begründete Anhaltspunkte dafür gibt, dass die EVU aus bilanzpolitischen Gründen die Diskontierungszinssätze für die Abzinsung von Entsorgungsverpflichtungen im Kernenergiebereich nicht in Übereinstimmung mit IFRS 37 ansetzen. Die verwendeten Zinssätze reflektieren nicht die „aktuellen Markterwartungen“ (IAS 37.47) und führen damit nicht zur bestmöglichen Schätzung der Auszahlungen, die zur Erfüllung der „gegenwärtigen Verpflichtung zum Bilanzstichtag“ (IAS 37.36) erforderlich wären. Deshalb wird eine mögliche Durchschnittsberechnung auf Basis historischer Zinssätze im Kommentar International GAAP 2014 von EY auch als „clearly inappropriate“ bezeichnet (Chap. 27, 4.3.2). Die Konzernabschlüsse 2014 von E.ON und RWE wurden von PwC, der Konzernabschluss von EnBW von KPMG geprüft; alle Abschlüsse erhielten einen uneingeschränkten Bestätigungsvermerk. Die Zinseffekte sind ganz klar wesentlich, alleine bei EnBW würde eine Verringerung des Zinssatzes um 0,5 Prozentpunkte den Barwert der Kernenergierückstellungen um rd. 775 Mio. EUR erhöhen (EnBW-Konzernabschluss 2014, S. 55). Die Kernenergierückstellungen in den Konzernabschlüssen von E.ON, RWE und EnBW sollten deshalb von der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung geprüft werden; mit der Tätigkeit der Abschlussprüfer sollte sich die Abschlussprüferaufsichtskommission befassen. Im Übrigen darf man gespannt sein, wie die EVU in den Konzernabschlüssen 2015 auf die Methodik und die Berechnungen in der gutachtlichen Stellungnahme von Warth & Klein Grant Thornton reagieren werden. Vielleicht wird dann auch etwas ausführlicher über die Ermittlung des Diskontierungszinssatzes im Anhang berichtet.

Prof. Dr. Hansrudi Lenz ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, Wirtschaftsprüfungs- und Beratungswesen an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

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