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Arbeitsrecht
08.03.2018
Arbeitsrecht
LArbG Berlin: Unbillige Weisung wegen unzumutbarer Pendelzeit

LArbG Berlin, Urteil vom 17.11.2017 – 2 Sa 965/17

ECLI:DE:LAGBEBB:2017:1117.2SA965.17.

Volltext: BB-ONLINE BBL2018-628-4

unter www.betriebs-berater.de

Amtlicher Leitsatz

Eine Weisung des Arbeitgebers, nach Rücknahme einer Kündigung sich am nächsten Tag um 07:00 Uhr früh an einem 170 km entfernten Ort zur Arbeitsaufnahme einzufinden, kann unwirksam, da unzumutbar, sein.

Sachverhalt

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigung gegenüber dem Kläger vom 27. April 2017.

Der Kläger, gelernter Pferdewirt, ist aufgrund des Arbeitsvertrages vom 01.08.2016 ab diesem Tag als Lagerarbeiter für ein Bruttomonatsgehalt von 2.200,00 Euro bei der Beklagten, einem Logistik-Unternehmen, welches ständig mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt, an deren Firmensitz in 15806 Z., Ortsteil N., beschäftigt. Er selbst wohnt in 15838 G., dieser Ort befindet sich ca. 6 km vom Firmensitz entfernt, mit dem Auto in 6 Min. zu erreichen.

Im Arbeitsvertrag befindet sich folgende Klausel:

„Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmer entsprechend seinen Leistungen und Fähigkeiten mit einer anderen im Interesse des Arbeitgebers liegenden gleichwertigen Aufgabe betrauen, an einen anderen Ort sowie vorübergehend auch bei einem anderen Konzernunternehmen einsetzen.“

 Die Parteien führten vor dem Arbeitsgericht Potsdam einen Kündigungsrechtsstreit. In der Güteverhandlung am 24.04.2017 nahm die Beklagte die Kündigung zurück und forderte den Kläger auf, sich nächstfolgenden Tag um 7:00 Uhr früh in der Niederlassung in Dresden zur Arbeit zu melden. Die Niederlassung in Dresden befindet sich 165 km entfernt von G. (google.maps; nach Meinung der Parteien 177 km entfernt) und ist mit dem Auto in 1 Std. 45 Min. bei üblicher Verkehrslage zu erreichen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Niederlassung ca. in 4 Std. 50 Min. zu erreichen.

Der Kläger erschien am 25.04.2017 nicht in Dresden, sondern in N.. Er meinte, dass er nicht verpflichtet sei, in Dresden zu arbeiten. Er erhielt deshalb eine Abmahnung vom selben Tag (vgl. die Abmahnung in Kopie Bl. 37 d.A.) und die erneute Anweisung, sich in Dresden zu melden. Am selben Tag sollte der Kläger in N. die Hausmeister unterstützen. Unstreitig wartete der Kläger 1 ½ Std., dass ihn ein Hausmeister abholte, ob in einem beheizten (so die Beklagte) oder unbeheiztem Raum (so der Kläger), ist zwischen den Parteien streitig. Dann ging der Kläger nach Hause. Er erhielt deshalb eine zweite Abmahnung (vgl. die Abmahnung in Kopie Bl. 38 d.A.) und eine dritte vom selben Tag (vgl. die Abmahnung in Kopie Bl. 39 d.A.), weil er sich nicht in Dresden eingefunden hätte. Als der Kläger am 27.04.2017 wieder nicht in Dresden, sondern in N. erschien, erhielt er die außerordentliche, hilfsweise ordentliche fristgemäße Kündigung vom 27.04.2017 (vgl. dazu die Kündigung in Kopie Bl. 16 d.A.).

Gegen diese Kündigung wendet sich der Kläger mit seiner beim Arbeitsgericht Potsdam am 04.05.2017 eingegangenen und der Beklagten am 09.05.2017 zugestellten Klage.

Der Kläger hält die Kündigung für unwirksam, da er die Weisungen der Beklagten nicht hätte befolgen müssen. Die Versetzungsklausel im Arbeitsvertrag sei nicht wirksam. Er habe ca. 10 Pferde neben seiner Tätigkeit bei der Beklagten auf seinem Hof in G. zu versorgen und könne nicht ad hoc nach Dresden fahren. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht Potsdam 21.06.2017 hatte der Kläger seinen Führerschein, den er wegen eines Verkehrsdelikts abgeben musste, noch immer nicht erhalten.

Der Kläger hat beantragt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung vom 27. April 2017 beendet wurde.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte meint, dass der Kläger aufgrund der Versetzungsklausel im Arbeitsvertrag in Dresden arbeiten müsse. Er habe seine Arbeit verweigert. Sie benötige eine deutschsprachige Lagerkraft in Dresden, während das Lager in N. voll besetzt sei.

Das Arbeitsgericht Potsdam hat der Klage stattgegeben und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die Kündigung vom 27.04.2017 nicht beendet worden sei, da die Kündigung unwirksam sei. Dies hat es im Wesentlichen damit begründet, dass wegen der besonderen Umstände des Falles nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Kläger in Zukunft die Weisungen der Beklagten nicht befolgen würde. Von einem vernünftig handelnden Arbeitgeber hätte verlangt werden können, dass er nicht von einem Tag auf den anderen anordne, dass die Arbeit an einem dermaßen weiten entfernten Ort aufgenommen werde.

Wegen der weiteren konkreten Begründung des Arbeitsgerichts und des Vortrags der Parteien in der ersten Instanz wird auf das Urteil vom 21.06.2017 Bl. 68 – 75 d.A. verwiesen.

Gegen dieses ihr am 29.06.2017 zugestellte Urteil richtet sich die am 14.07.2017 per Fax beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg eingegangene und am 29.08.2017 per Fax begründete Berufung der Beklagten. Sie meint, dass sie berechtigt gewesen sei, die außerordentliche Kündigung bzw. die hilfsweise ordentliche Kündigung auszusprechen, da ihre Weisungen weder unbillig noch unwirksam gewesen seien. Insbesondere folge dies nicht aus der Tatsache, dass der dem Kläger zugewiesene Arbeitsort 177 km entfernt läge, da die Versetzungsklausel im Arbeitsvertrag dies zulasse. Maßgeblich sei auch das Verhalten des Klägers, der sich über die Anweisungen der Beklagten lustig gemacht habe. Auf das vorherige Verfahren vor dem Arbeitsgericht Potsdam komme es nicht an, da dieses Verfahren beendet sei. Die Beklagte habe mit der Rücknahme der Kündigung zu erkennen gegeben, dass sie auf die Arbeitsleistung des Klägers besonderen Wert lege und ihn deshalb unbedingt weiter beschäftigen wollte.

Im Übrigen habe der Kläger die Beklagte am 29.06.2017 versucht zu erpressen (vgl. dazu den Vermerk seitens der Beklagten Bl. 98 d.A. in Kopie), worauf sie eine erneute Kündigung vom 11.07.2017 ausgesprochen habe.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des am 21. Juni 2017 verkündeten Urteils des Arbeitsgerichts Potsdam – 4 Ca 676/17 – die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil und bestreitet, die Kündigung vom 11.07.2017 erhalten zu haben. Die im Vermerk enthaltenen Behauptungen seien unwahr.

Er verweigere sich rechtmäßigen Arbeitsanweisungen nicht, derartig kurzfristig ausgesprochene Weisungen im Hinblick auf seine privaten Verhältnisse seien jedoch unbillig.

Wegen des weiteren Vortrags der Parteien in der zweiten Instanz wird auf die Schriftsätze der Beklagten vom 29.08.2017 (Bl. 94 ff. d.A.) und 17.11.2017 (Bl. 112 f. d.A.) sowie des Klägers vom 05.10.2017 (Bl. 110 f. d.A.) verwiesen.

Aus den Gründen

    I.

Die gemäß §§ 8 Abs. 1; 64 Abs. 1, Abs. 2c, Abs. 6; 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG; §§ 519; 520 Abs. 1 und Abs. 3 ZPO zulässige Berufung ist insbesondere formgerecht und fristgemäß eingelegt und begründet worden.

    II.

In der Sache hat die Berufung der Beklagten jedoch keinen Erfolg. Jedenfalls im Ergebnis zu Recht hat das Arbeitsgericht Potsdam der Kündigungsschutzklage stattgegeben, da das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche noch durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 27.04.2017 aufgelöst worden ist. Der Kläger hat die Arbeit nicht verweigert, da er der unbilligen Weisung, ab sofort in Dresden zu arbeiten, nicht Folge leisten musste. Auf die nach der Behauptung der Beklagten vom 11.07.2017 ausgesprochene erneute außerordentliche Kündigung muss nicht eingegangen werden, da diese nicht Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist und dieses auch nicht tangieren kann, da die behauptete erneute Kündigung vom 11.07.2017 außerhalb der Kündigungsfrist der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung vom 27.04.2017 liegt.

1. Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vom 18.10.2017 – 10 AZR 330/16 – zitiert nach juris, zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen, ist der Arbeitnehmer nach §§ 106 S. 1 GewO; 315 BGB nicht – auch nicht vorläufig – an eine Weisung gebunden, die die Grenzen billigen Ermessens nicht wahrt.

a. Dabei kann es dahinstehen, ob die Versetzungsklausel im vorliegenden Arbeitsvertrag wirksam ist. Fehlt es – wie hier – an einer Festlegung des Inhalts oder des Orts der Leistungspflicht im Arbeitsvertrag, ergibt sich der Umfang der Weisungsrechte des Arbeitgebers aus § 106 GewO. Auf die Zulässigkeit eines darüber hinaus vereinbarten Versetzungsvorbehalts kommt es daher nicht an. Weist der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen anderen Arbeitsort zu, unterliegt dies der Ausübungskontrolle gem. §§ 106 S. 1 GewO; 315 Abs. 3 S. 1 BGB (BAG 18.10.2017 – a.a.O., Rz. 27 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

b. Die Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen verlangt eine Abwägung der wechselseitigen Interessen nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den allgemeinen Wertungsgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit. In die Abwägung sind alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehen. Hierzu gehören die Vorteile aus einer Regelung, die Risikoverteilung zwischen den Vertragsparteien, die beiderseitigen Bedürfnisse, außervertragliche Vor- und Nachteile, Vermögens- und Einkommensverhältnisse sowie soziale Lebensverhältnisse, wie familiäre Pflichten und Unterhaltsverpflichtungen. Eine soziale Auswahl wie im Falle des § 1 Abs. 3 KSchG findet nicht statt. Soweit es auf die Zumutbarkeit des neu zugewiesenen Arbeitsorts ankommt, kann aus den sozialrechtlichen Regeln über die Zumutbarkeit einer Beschäftigung kein belastbarer Maßstab die arbeitsrechtliche Beurteilung des Ermessensgebrauchs nach § 106 S. 1 GewO, § 315 BGB bei einer Versetzung abgeleitet werden (BAG 26.09.2012 – 10 AZR 412/11 – AP Nr. 22 zu § 106 GewO, Rz. 34 bis 35; BAG 13.06.2012 – 10 AZR 296/11 – EzA § 106 GewO Nr. 11, Rz. 29 bis 30 jeweils m.w.N.). Regelungsziel der gesetzlichen Vorschrift über die Ausübung billigen Ermessens ist es, im Einzelfall eine Entscheidung herbeizuführen, die in wechselseitigen Interessen der Arbeitsvertragsparteien angemessen Rechnung trägt. Dies setzt eine individuelle Abwägung aller betroffenen Interessen voraus und schließt eine starre Anwendung sozialrechtlicher Zumutbarkeitsregeln aus. Das berechtigte Interesse des Arbeitnehmers an kurzen Pendelzeiten und geringem finanziellen Aufwand ist im Rahmen der Abwägung ein wesentliches Kriterium. Ob diese Interessen angemessen berücksichtigt wurden, kann nur durch Abwägung mit den dienstlichen Gründen des Arbeitgebers ermittelt werden, die zu der Ausübung des Direktionsrechts geführt haben. Bei wichtigen dienstlichen Gründen können längere Pendelzeiten zumutbar, bei Gründen von geringerem Gewicht können bereits kürzere Pendelzeiten unzumutbar seien. Feste Grenzen lassen sich nicht definieren. § 121 Abs. 4 S. 1 und S. 2 SGB III enthalten keinen belastbaren Maßstab für die Kontrolle des Ermessensgebrauchs (vgl. BAG 17.08.2011 – 10 AZR 202/10 -, EzA § 106 GewO Nr. 9, Rz. 26 m.w.N.).

2. Nach diesen Grundsätzen waren die Weisungen der Beklagten vom 24.04., 25.04. und 26.04.2017 sowie die daraus abgeleiteten Abmahnungen bzw. die Kündigung unwirksam.

a. Denn bereits die Chronologie der Ereignisse indiziert die Unbilligkeit der Weisung eines Einsatzes in Dresden. Am selben Tag, als die Kündigung im ersten Arbeitsgerichtsprozess der Parteien zurückgenommen wurde, wurde dem Kläger um 13.00 Uhr aufgegeben, am nächsten Tag um 7.00 Uhr früh in Dresden anzufangen. Bereits diese Verbindung zwischen Kündigungsrücknahme und Weisung, an einem weit entfernten Ort die Arbeit aufzunehmen, indiziert einen Rechtsmissbrauch, weil es nach dem ersten Anschein um die Disziplinierung des Klägers und nicht um eine betriebliche Notwendigkeit ging.

b. Der Pflicht, diese betriebliche Notwendigkeit zu schildern, ist die darlegungs- und beweisbelastete Beklagte (vgl. dazu nur BAG 26.09.2012 – 10 AZR 412/11 -, aaO., Rz. 36 m.w.N.) bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg nicht nachgekommen. Sie hat lediglich in der ersten Instanz pauschal behauptet, einen deutschsprachigen Lagerarbeiter in Dresden zu benötigen, während das Team in N. im Lager voll besetzt sei. Dies erscheint schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil der Kläger bis zum Kündigungstermin in N. arbeitete. Weitere Einzelheiten sind von der Beklagten nicht dargelegt worden, es sind keine Ausschreibungen zu den Akten gereicht worden, keine weiteren Angaben zur Arbeitnehmeranzahl im Lager in N. bzw. in Dresden, geschweige denn konkrete Angaben zu den benötigten konkreten Arbeitnehmern.

c. Im Lichte dessen kann die lange Pendelzeit des Klägers nach Dresden von 3 ½ Std. insgesamt nur als unzumutbar angesehen werden, da dem entgegenstehende wichtige betriebliche Gründe nicht ersichtlich sind. Dabei ist sogar nur die unter „normalen Umständen“ zu absolvierende Fahrzeit als unzumutbar anzusehen. Im vorliegenden Fall hatte der Kläger zum damaligen Zeitpunkt aber auch noch seinen Führerschein verloren und wäre auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen gewesen. Damit wäre ihm ein Erreichen von Dresden um 7.00 Uhr früh am Tag seines Arbeitseinsatzes nicht mehr möglich gewesen.

d. Endlich hat die Beklagte dem Kläger keine Zeit gelassen, seine persönlichen Verhältnisse auf den neuen Arbeitsort umzustellen. Der Kläger hat dazu unter Beweisantritt dargelegt, dass er sich auf seinem Hof um 10 Pferde zu kümmern habe. Die Beklagte hat dies in der ersten Instanz lediglich pauschal bestritten und in der zweiten Instanz dazu nichts mehr ausgeführt.

    III.

Die Beklagte trägt daher die Kosten ihrer erfolglosen Berufung gemäß § 97 Abs. 1 ZPO.

    IV.

Für eine Zulassung der Revision bestand kein Anlass.

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